Ernani. Giuseppe Verdi.

Oper.

Brian Michaels. Bregenzer Festspiele.

Radio DRS-2, Reflexe, 22. Juli 1987.

 

 

[Abnahme der Ansage:] Ja, aber wissen Sie, wann eigentlich die erste Eisenbahnlinie gebaut wurde? Ich selber kann die Jahrzahl hier von Bregenz aus nicht eruieren; aber ich weiss, dass man zwischen 1825 und 1830 in Deutschland davon angefangen hat zu reden. Überliefert ist, dass Goethe in Karlsbad mit einem Freund, dem bayerischen König Ludwig I., über das Aufkommen der Eisenbahn gesprochen hat. Und Ludwig soll damals gesagt haben: "Sie werden sehen, mit der Eisenbahn wird die Pflaume nicht mehr nach Pflaume schmecken!"

 

Zwischen 1825 und 30 ahnten also die Hellsichtigen, dass das Maschinenzeitalter die alte Welt aus den Angeln heben werde. Sie ahnten, dass Industrie und Transportwesen eine Ausbeutung von Natur und Ressourcen ermöglichen würden, die vordem unvorstellbar gewesen war. Und sie spürten, dass diese Revolution auch jene Güter erfassen werde, die bisher als unveränderlich gegolten hatten. Die Technik, fürchteten sie, werde Religion, Sitte, Moral ins Rutschen bringen, und auch die gesellschaftlichen Strukturen. Und die Natur, die seit Beginn der Menschheit stets die eine, immergebärende, grosse Mutter gewesen war, die Natur würde mit dem Aufkommen der Eisenbahn zum Ausbeutungsobjekt der Menschen. Die Pflaume aber, darin waren sich Goethe, der Dichter, und Ludwig, der König einig, die Pflaume werde dann nicht mehr nach Pflaume schmecken.

Betrachtet man die Kulturgeschichte Europas, zeigt sich ein merkwürdiges Phänomen: Immer dann, wenn die Menschen spürten, dass sie daran waren, etwas zu verlieren, begann sich die Kunst mit dem gefährdeten Gut zu beschäftigen. Das aufkommende Maschinenzeitalter veranstaltete in der Kunst die Feier der Natur. Aufklärung und Rationalismus induzierten, hundert Jahre vorher, die Epoche der Empfindsamkeit. Und Gotthelf schrieb seine Bauernromane, als sich ein Industrieproletariat zu bilden begann.

 

Unter diesem Gesetz steht auch die Oper "Ernani", die die Bregenzer Festspiele ausgegraben haben. Auch "Ernani" kompensiert einen Verlust: den Verlust der Gefühle. Was den Menschen im Mief des Bürgertums und im Dickicht der Städte abhanden kommt, wird nun auf dem Theater kultiviert: Zum Beispiel das Gefühl der überströmenden romantischen Liebe:

 

(Musik)

 

Liebe also. Kultiviert wird aber auch das Gefühl von Kampfesmut und Kameradschaft. In einer Zeit, wo die Menschen 13 Stunden am Tag an die Werkbank gefesselt werden, wird das ungebundene Banditenleben besungen:

 

(Musik)

 

Der Chor verherrlicht das Banditenleben. Und die obligate Flöte begleitet das Todesduett:

 

(Musik)

 

In diesem Todesduett wird auch ein Gefühl kultiviert: das Gefühl der Angst, sterben zu müssen, ohne je die Liebe erlebt zu haben; abtreten zu müssen, bevor der Mensch Erfüllung fand. Man darf nicht vergessen, dass 1844, bei Entstehung der Oper, die meisten nicht mehr in der Religion Erfüllung fanden. Und die politische Betätigung war ihnen verboten. Das einzige Gut, das noch Halt und Erfüllung versprach, war die Erfüllung der grossen Ekstase, die sich hier und jetzt, in der Gegenwart, vollzieht. Doch wie, wenn sich diese Ekstase in meinem Leben nicht einstellt? Wenn ich zwar gearbeitet habe wie eine Maschine, aber nie das Glück erfüllter Liebe genoss? Habe ich da nicht umsonst gelebt? Und bleibt mir da nicht nur noch das Schluchzen über meine ungenutzten Lebensmöglichkeiten? Bleibt mir da nicht bloss noch der Trauergesang: "Elvira, Elvira, Addio"?

 

(Musik)

 

Sie sehen, "Ernani" ist das Drama der grossen, starken Gefühle, geschrieben im Moment, wo die Menschen daran sind, ihre Gefühle zu verlieren. Und die Musik kultiviert nun das gefährdete Gut, sie verdeutlicht und vergröbert es mit ihrer Leierkasten-Begleitung, die sich dem Gemüt einprägt und aufzwingt.

 

(Musik)

 

Solch einfache Töne versteht jeder. "Ernani" ist mithin ein Werk fürs Massenpublikum, eine Gefühlsoper für Plebejer. Doch merkwürdig: Die Gefühle, die "Ernani" ausdrückt, liegen nicht in Lebensbereichen, die dem Plebejer zugänglich sind. Denn was hören wir in der Oper? Einen Jüngling von uraltem Adel, der die vergangene Grösse seines Geschlechts besingt. Wir hören einen König, der Mild und Grossmut der römischen Cäsaren beschwört. Verdi komponiert das Machtstreben und die Ehrsucht, die Adelsverschwörung und die Intrige, die Ehrbegriffe und Verhaltensweisen einer vergangenen Noblesse. – Besungen werden also lauter aristokratische Gefühle; aristokratische Gefühle am Vorabend der 48er Revolution. Aristokratische Gefühle für ein plebejisches Publikum. Merkwürdig.

 

Merkwürdig auch, dass uns die Oper lauter Gefangene zeigt, Menschen, die gebunden sind in ihren Impulsen, die keine autonomen Entscheidungen treffen können. Sondern die Figuren der Handlung sind allesamt ihren fixen Ideen ausgeliefert. Der eine will Rache um den Preis seines Lebens. Der andere will Macht um den Preis seines Lebens. Der dritte will Liebe um den Preis seines Lebens. Am Vorabend der 48er Revolution zeigt uns die Oper unfreie Menschen unter der Diktatur der Gefühle, Menschen, die ein Hornstoss deswegen umbläst:

 

(Musik)

 

Was soll uns diese Oper? Was soll uns dieser plebejische Gefühlskult? Wir sehen in "Ernani" Menschen von gestern mit Auffassungen von gestern in einer Musik von gestern. Was soll uns das?

 

Ich muss die Frage offenlassen. Denn ich verstehe beim besten Willen nicht, warum die Bregenzer Festspiele diese Oper angesetzt haben, und die Aufführung, von der ich mir eine Antwort erwartete, die Aufführung hat mir nicht weitergeholfen. Im Gegenteil, der Regisseur hat durch zahlreiche Details kenntlich gemacht, wie fremd uns diese Oper ist in ihren Klischees und Konventionen. Den Chor zum Beispiel, dem wie in den meisten Opern jede Individualität fehlt, den Chor hat er konsequenterweise auf- und abmarschieren lassen wie eine Rekrutenkompanie. Brian Michaels wollte auch die Sänger zur grossen, pathetischen Gebärde des 19. Jahrhunderts führen. Bloss haben die Sänger (die Probenzeit war vermutlich zu kurz) nicht mitgemacht, sondern ihre Steharien mit blasser Konventionalität abgeliefert. Der Regisseur hat auch mit Öllampen vorn an der Rampe gezeigt, in welch historischem Rahmen sich das Ganze abspielt und wie entfernt uns diese Oper ist – aber das hat mir nicht erklärt, was uns dieser "Ernani" heute soll.

 

Und so komme ich nicht darum, diese Aufführung aus Bregenz als Produkt gedankenloser Festspielroutine aufzufassen. Einer Festspielroutine, die mit grossen Namen und unter dem Vorwand der Wiederentdeckung eines vergessenen Meisterwerks eine Aufführung herausbringt, die uns in keiner Hinsicht etwas angeht und darum auch in keiner Hinsicht weh macht. Wenn aber Kunst die Aufgabe hat, uns die Augen zu öffnen, so hat uns Bregenz geholfen, die Augen zu schliessen. Und in diesem Moment des Eskapismus zeigt sich vielleicht die Fragwürdigkeit solcher Festspielpolitik am deutlichsten.

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