Der Menschenfeind. Molière.

Komödie.

Alex Freihart. Städtebundtheater Biel–Solothurn.

Bieler Tagblatt, 14. Mai 1980.

 

 

Stadttheater in der Gewerbeschule:

Mit beeindruckenden Einzelzügen

"Der Menschenfeind" als Abschluss des-Zyklus' des Stadttheaters

 

Das Stück handelt von einem Mann, der Wahrheit und Aufrichtigkeit sucht und sich dadurch unmöglich macht. Denn die Gesellschaft braucht Verstellung und Heuchelei, weil die Menschen zu schwach sind, um die ungeschminkte Wahrheit über sich selbst zu ertragen. Dieses Problem des "Menschenfeinds" behandelt das Städtebundtheater in einer Aufführung, die gerade wegen ihrer glücklichen Routine kein volles Gelingen findet.

 

 

Wenn die Anfangsmusik verklungen ist, bleibt es still. Die Scheinwerfer beleuchten eine leere Bühne. Es ist, als ob niemand daran dächte, die Erwartungen der Zuschauer zu befriedigen, die etwas sehen wollen.

 

Hinter den Kulissen, dem Publikum verborgen, entspinnt sich ein Disput. Man hört eine ärgerliche Stimme, die aufbegehrt, und eine Stimme, die zu begütigen sucht. Die beiden geraten schliesslich auf die Bühne, aber es ist, als hätten sie sich hierher verirrt. Weder Alceste noch Philinte nehmen Notiz vom Publikum. Der eine bleibt stehen und zeigt den Zuschauern seinen Rücken. Er wütet für sich allein: "Ich will nichts mehr vernehmen", sagt Alceste. Philinte, der dem Freund nachrannte, ist voll mit Alceste beschäftigt und zeigt dem Saal höchstens das Profil.

 

Was man in diesem "Menschenfeind" zunächst sieht, ist also ein publikumsfeindliches Theater. Ein Theater, das sich nicht um die Konventionen schert und in dem die Schauspieler zu vergessen scheinen, dass sie für die Zuschauer spielen.

 

Eine geschickte Umsetzung von Textsinn in Anschauung! Alceste geht heftig auf und ab, und er ist so mit sich beschäftigt, dass er seine Haltung vernachlässigt. Sein Gesicht schmollt, sein Körper bockt, die ganze Gestalt weist Anteilnahme von sich. Alceste ist ein Mensch, der sich nicht darum kümmert, wie er auf andere wirkt. Er zeigt Züge von Hässlichkeit, wenn er sich ärgert, und er denkt nicht daran zu gefallen.

 

Oronte, eine neue Figur, gehört nicht zu dieser Art von Weltverächtern. Wenn er auftritt, schreitet er stolz wie ein Pfau auf die Rampe zu, herausgeputzt mit Stoffen und Rüschen, mit wippenden Federn auf dem Hut und mit einer Perücke, die in unzähligen Löckchen auf Schultern und Rücken niederfliesst. Für einen solchen Menschen gilt das Publikum viel und der Beifall alles. Kaum kann er das Gesicht vom Zuschauerraum abwenden, wenn er mit Alceste redet, sondern er röhrt seinen Monolog mit der Eitelkeit eines Ariensängers in den Saal hinein.

 

Erst zehn Minuten sind seit Beginn der Vorstellung vergangen, aber schon wird deutlich, dass das Ensemble kaum Schwächen aufweist, wohl aber manche überzeugende Einzelzüge.

 

Günter Rainer hält die Titelfigur des Alceste von einseitiger Verzerrung fern, er arbeitet vor allem ihren vernünftigen Kern, ihre Wahrheitsliebe heraus und macht dadurch deutlich, dass sich der Zorn seines Menschenfeinds aus der Verzweiflung nährt.

 

Bei Alf Beinell, der den vermittelnde Philinte spielt, kann man geradezu von optimaler Besetzung sprechen. Gemässigt, weltmännisch und klug weiss sich Beinell zu geben. In seiner Stimme liegt eine Wärme, die Gefühl verrät, und in seiner Haltung eine Beherrschung, die Reife ausdrückt.

 

Eleonore Bürcher, die ihn am Schluss in ihre Arme zurückzieht, um mit ihm das Paar der Vernünftigen zu bilden, diese Bürcher ist ihm eine adäquate Partnerin. So unbedeutend ihre Rolle ist, man glaubt ihr, dass sie und Philinte zusammengehören. Zu den beachtlichen Leistungen schlägt sich die intelligente Darstellung des Oronte. Hans Schatzmann ist ein Schauspieler, der immer wieder durch die Differenziertheit und Sicherheit überrascht, mit der er sein Talent einsetzt. Ein untrüglicher Sinn für trockene Komik verleiht seinen Figuren eine nachhaltige Prägnanz.

 

Mit genauer, sorgfältiger Darstellung sichern schliesslich Gerda Zangger, Beat Albrecht und Peter Glauser eine Geschlossenheit des Spiels, an die Monika Schweitzer und Rolf Schwab, vielleicht aufgrund ihrer Jugendlichkeit, noch nicht ganz heranreichen.

 

So betrachtet, hätte die Aufführung eigentlich ein durchschlagender Erfolg und die Krönung eines achtjährigen Bemühens um Molières Werke werden müssen. Aber dieses Gelingen blieb ihr versagt, und streckenweise schleicht sich, nach meinem Dafürhalten, unvermutete Langeweile ein – ein Zeichen, dass man die Schwierigkeiten, die das Stück uns heute bietet, nicht ernst genug genommen hat.

 

"Der Menschenfeind" gehört zu jenen Werken, bei denen alles – sowohl der dramatische Konflikt als auch der Gegenstand des Dramas, die Wahrheitsliebe – in der Sprache liegt. Das heisst, im Reden und Widerreden entfaltet sich das Problem; und in der Rede gelangt es zum Ausdruck.

 

Das aber macht die Komödie für heutige Verhältnisse schwierig. Wir sind uns an Äusserlichkeiten gewohnt und bringen die Fähigkeit kaum mehr mit, langen, wortreichen Ausführungen zuzuhören, wo nichts geschieht, ausser dass einer spricht.

 

Und so werden die oben erwähnten Umsetzungen von Textsinn in Anschauung vom Bestreben verdrängt, das Äusserlich-Theatermässige wieder einzubringen durch Schminke, Kostüm, Gänge und "Handlung", wie Getränke servieren, Zigarren rauchen, Karten spielen. Ausserdem lässt Alex Freihart den langen Dialog flüssig, leicht und rasch sprechen. Doch – und das ist das Kreuz – diese Mittel führen vom Gehalt der Reden weg und lenken vom rein Gedankenmässigen ab, in dem die Stärke und Bedeutung des Stückes liegt.

 

Diesem Spiel auf hoher vergeistigter Ebene ist offenbar mit Theaterroutine allein nicht beizukommen, und mag sie noch so glücklich sein. Man wird daher von einer inspirierten, grossen Aufführung nicht sprechen können, bei allem bemerkenswerten Einsatz der Schauspieler.

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