Rolland Laporte begegnet Minister Colbert. Pil Crauer.
Alex Freihart, Karl Weingärtner, Hanna Wartenegg. Städtebundtheater Biel–Solothurn.
Bieler Tagblatt, 19. März 1980.
Uraufführung im Städtebundtheater:
"Werktreue" Inszenierung deckt Mängel auf
Mit "Rolland Laporte begegnet Minister Colbert" hat das Städtebundtheater die Uraufführung eines im weitesten Sinne historischen Stücks herausgebracht. Die Premiere fand in Solothurn, vor Berichterstattern aus der ganzen Schweiz, statt. Doch der Bühnenerstling des Schweizer Autors Pil Crauer fand bloss beim Publikum, nicht aber bei den Presseleuten gute Aufnahme. Unser Kritiker versucht darzulegen, worin die Schwächen des Stücks liegen und warum ihm Alex Freiharts "werktreue" Inszenierung eher zum Schaden als zum Nutzen geriet.
Wenn man an die Erschwernisse denkt, die der Umbau des Stadttheaters für den Aufführungsbetrieb mit sich bringt, und wenn man sich die Einschränkungen vorstellt, die sich der Bühnenbildner durch das Provisorium in der Gewerbeschule gefallen lassen muss, dann wird es einem leichtfallen, einmal mehr dem Bühnenbildner des Hauses ein Kompliment zu machen. Wieder hat Karl Weingärtner mit Scharfsinn und Phantasie die kleine Spielfläche so zu gliedern verstanden, dass durch seinen Stil des Andeutens und Hintupfens Weite entstand, aber auch Stimmung und Stille.
Die Szene zeigte mithin einen in seiner Art vorbildlichen Raum: karg und doch wirkungsvoll, ästhetisch befriedigend und doch unaufdringlich. So wurde das Bühnenbild seiner Funktion voll gerecht. Es schuf Raum für die Schauspieler und Raum für die Handlung.
Diese Ruhe und Zurückhaltung im Optischen übernahm Alex Freihart für die Inszenierung. Auch hier wurde das Massvolle und Temperierte angestrebt, und wichtiger als die Bewegung war dem Regisseur das bildhaft Statische. Die Schauspieler waren so über den Raum verteilt, dass sie Gruppen bildeten, Konfigurationen, und die "Bilder" – so nennt der Autor seine Akte – erschienen demnach wie eine Folge tönender Gemälde.
Am deutlichsten war in dieser Hinsicht vielleicht das zweite Bild, wo sich drei Personen – im Stil der Zeit und deshalb für unsere Bühne durchgehend zu wuchtig kostümiert von Hanna Wartenegg – auf Stühlen gegenübersitzen und einfach reden, minutenlang, ohne dass einer aufsteht oder sich sonstwie bewegt.
Diese Inszenierungsweise, die sich noch bei Klassikeraufführungen findet, die das Gewicht auf die Deklamation legen, und natürlich in der Oper, diese Inszenierungsweise schafft nun ebenfalls Raum. Sie bindet den Schauspieler und seinen Ausdruck zurück zugunsten des Wortes, das hier alles gilt und auch alles trägt.
Nun aber ist Pil Crauers "Stück", das zur Uraufführung gelangte, kein "dramatisches Gedicht"; hier trägt das Wort, die Sprache, nicht. Und so ist Freiharts Entscheidung für eine "neutrale" Spielweise mit Wahrscheinlichkeit falsch. Die "mittlere Stillage" (Deklamation und mässige Bewegung) überlässt den schwachen Text sich selbst und hilft ihm nicht auf. Und das wiederum bedeutet: sie macht seine Mängel evident.
Zur Illustration, welcher Art die Mängel sind, greife ich wieder auf das zweite Bild zurück. Es sitzen da drei Namen beisammen: Abbé Chayla, Grossvikar und Untersuchungsrichter; Basville, Intendant des Languedoc; Colbert, Minister Ludwigs des Vierzehnten. Und diese Namen verkörpern drei Prinzipien: Geistlichkeit, Landadel und Zentralismus. Diese drei Prinzipien wiederum repräsentieren den Staat, das System gesellschaftlicher Ordnung.
Nun tritt Rolland Laporte ein, Anführer der Camisards, das Haupt jener protestantischen Bauern also, die für ihre Unabhängigkeit und gegen Paris kämpfen. Auch er verkörpert ein Prinzip: das Prinzip individueller Freiheit und gefühlsnaher Natürlichkeit.
Der Konflikt, den das Stück "Rolland Laporte begegnet Minister Colbert" vorführt, zeigt mithin den Konflikt zweier Prinzipien, den Zusammenprall des zivilisatorischen Fortschritts mit dem ursprungshaft Natürlichen, wenn man so will. Doch "Konflikt zweier Prinzipien" – das ist Philosophie; und Philosophie im Theater – ist Papier.
Warum aber, so wird man fragen müssen, warum kann der Eindruck entstehen, Crauers Figuren seien blosse Prinzipienträger? Doch wohl darum, weil es ihm nicht gelingt, das Ideenmässige mit dem konkret Menschlichen zu verschmelzen. Das heisst: nie lässt Crauer seine Figuren etwas tun oder sagen, das sie "bloss" als Menschen kennzeichnet.
Ein winziges, aber gerade deshalb kennzeichnendes Detail aus dem ersten Bild mag das verdeutlichen. Da hantiert die Mutter am Herd; offensichtlich wird etwas gekocht. Doch was? Warum und wozu wird Speise zubereitet? Wir vernehmen es nicht. So aber lässt sich dieser Spielzug zu nichts anderem verwenden, als den Schauspielern eine Beschäftigung zu geben. Und dabei könnte doch die Art, wie sie kocht, etwas über diese Frau sagen und die Art der Speise etwas über die Lebensweise dieser Bauern.
Dass Crauer ob der Historie die Menschenzeichnung vergisst, lässt sich jedoch verstehen. Denn die Schwierigkeit bei allen Arten von Geschichtsdramen ist, dass der Zuschauer nicht nur mit Personen, sondern zusätzlich auch mit historischen Voraussetzungen vertraut gemacht werden muss. Es genügt hier nicht, erkennen zu lassen, wer der Held, der Gegenspieler, die Geliebte oder der Helfer ist, damit die Handlung ihren Lauf nehmen kann. Sondern dargestellt muss ebenfalls werden, welches die Lage und die Umstände sind, in denen das Drama spielt. Die Exposition, um es kurz zu sagen, verlangt hier also doppelten Raum und dreifache Mühe als ein jedes andere Stück.
Doch indem Crauer sein ganzes Augenmerk darauf richtet, die Geschichte zu exponieren, vergisst er, die Menschen darzustellen, an denen und durch die die Geschichte handelt. Und dabei, mit was für genial einfachen Mitteln hat sich Schiller im "Wallenstein", auch einem Geschichtsdrama, aus der Schlinge gezogen! Da gibt es Stellen, wo er vor dem Schematismus nicht zurückweicht und die Leute immer wieder einen Vers lang geschichtliche Information und einen Vers lang Menschendarstellung erzählen lässt, so stetsfort abwechselnd, bis wir am Schluss beides vor uns haben: einen Menschen und seine Lebensweise.
Bei Crauer hat der Mangel an Menschendarstellung zur Folge, dass kein wirkliches Interesse an seinen Figuren aufkommt. Und das wiederum heisst, dass die dramatische Spannung ausbleibt, wo man wissen will, wie der Konflikt ausgeht, und wo man demzufolge alle Umstände mit Aufmerksamkeit registriert, die den Helden fördern oder gefährden. Bei "Rolland Laporte" indessen bleibt die Erkenntnis gering. Denn, wie Brecht zeigte, kann man Wissen erst aufnehmen, wenn man etwas wissen will, das heisst neugierig ist.
Es kann nicht verwundern, wenn unter diesen Umständen von den Schauspielern nicht viel zu melden ist. Denn, wo sie das Stück im Stich liess, liess sie auch die "werktreue" Regie hängen; und so gelang es nur wenigen, mit theatralischen Mitteln das Minus der Vorlage wettzumachen und trotz allem so etwas wie ein Porträt zu umreissen.
Zu denen, welchen es gelang, müssen vor allem gezählt werden: Peter Clös, Hans-Heinrich Rüegg, Beat Albrecht, Hans Schatzmann, Jean Meyer und Marc Sillaber – doch seltsamerweise sind das alles Leute mit kleinen und kleinsten Parts.
Die Darsteller der Hauptfiguren aber, Rolf Schwab als Rolland Laporte und Alf Beinell als Colbert, bleiben jeder Ausstrahlung bar und beschränken sich aufs Deklamieren. Wer hat sie zurückgebunden, das ist die Frage. Das Stück? Die Regie? Sie sich selbst? Ihre Leistung in weiteren Stücken wird diese Frage schlüssiger beantworten als eine scharfsinnige, aber unsichere Herleitung aus einer so schwankenden Grundlage, wie sie das Stück von Pil Crauer darstellt.