Schöne Zeiten. René Regenass.
Rudolf Kautek. Städtebundtheater Biel–Solothurn.
Bieler Tagblatt, 21. September 1983.
Uraufführung im Stadttheater
Ein harter Verriss – und ein volles Lob
"Schöne Zeiten" heisst das Stück von René Regenass, das im Stadttheater Biel zur Uraufführung gelangte. Dabei zeigte sich: Die Schweizer Gegenwartsdramatik liegt darnieder. Das Städtebundtheater aber blüht.
Unbefriedigend, schon vom Handwerklichen her, ist die Geschichte, die Regenass konstruiert hat. Der Coiffeur bedient einen Schachgrossmeister, der nicht sagen will, was für eine Frisur er sich wünscht: "Es gibt nichts Nebensächlicheres als den Haarschnitt. Und was unwichtig ist, ist nicht der Rede wert." Bevor die Frage gelöst ist, was ein solcher Kunde im Coiffeursalon zu suchen hat, tritt ein Mathematiker auf: "Ich arbeite auf dem Gebiet der Schachcomputer, wissenschaftlich."
Damit stellt sich die Frage: Wird der Computer eines Tages den Schachspieler ersetzen? Aber nein, da liegt nicht das Problem: Denn ein Oberst kommt in den Salon. Wir vernehmen, draussen sei "eine Demonstration, eine Friedensdemonstration". Was also ist das dramatische Problem? "Wir werden uns auf die Nacht einrichten müssen. – Richten wir eine Notunterkunft ein." Aber das Verhängnis schreitet schnell. Im Morgengrauen erscheint ein junger Mann und meldet schreckensbleich: "Die Tochter des Coiffeurs ist im Spital, sie ist von einem Auto überfahren worden." Damit ist das Stück zu Ende.
Man sieht: Das Handlungsgerüst ist äusserst schwach. Die Geschehnisse, die Regenass aneinanderreiht, sind zufällig und tragen keinen Theaterabend. Darum müssen die Figuren reden, reden, reden, was das Zeug hält. Der Dialog soll das Drama retten.
So reden die Leute über Gott und die Welt. Über Krieg und Frieden. Über Technokratie und Willensfreiheit. Über Kunst und Wissenschaft. Über Irrtum und Wahrheit. Über Fortschritt und Weltuntergang. Sie reden und reden.
"Das Stück", so schreibt René Regenass, "zeigt vier Menschen, die sich zufällig begegnen. Ihr Gespräch entwickelt sich zu einem Dialog über die Angst, auch wenn es sich keiner eingestehen will; vielleicht sind sie sich nicht einmal im klaren, worüber sie letztlich reden."
Nun wird erkennbar, worin das handwerkliche Versagen von René Regenass liegt: Wenn der Dialog nur aus oberflächlichem, unklarem Geschwätz besteht – dann hat das Stück keine Linie, keinen Schwerpunkt, keine Entwicklung. Und damit ist es langweilig.
An diesem Punkt stellt sich die Frage: Wie bewältigt ein Theater ein solches Stück? Indem es seine besten Kräfte mobilisiert. Aus Wien wurde Rudolf Kautek eigeflogen, aus Zürich Georges Weiss geholt, und aus dem Ensemble wurden die routiniertesten Schauspieler rekrutiert: Bruno Gerber, Hans Schatzmann, Raoul Serda.
Professor Kautek, ein alter Theaterhase, übernahm die Regie. Er war früher Oberspielleiter am Deutschen Volkstheater Wien, jetzt lehrt er die Inszenierungskunst am Max-Reinhardt-Seminar. Mit geübter Hand hat er den Schwulst des Dialogs reduziert. "Wir spielen", so hat er bestimmt, "die Charaktere, die Menschen, die Situation. Den Dialog hat der Autor ja bereits geschrieben." Mit andern Worten, die Bühne erfand jene konkreten Einzelheiten, die das Stück nicht bringt.
Für diese Arbeit standen dem Regisseur hervorragende Darsteller zur Seite, allen voran Bruno Gerber als Coiffeurmeister. Verhalten deutete er das Haarschneiden, das Lächeln, die Verbeugungen, das Zuhören an, und trotzdem ergab sein feines Spiel ein stimmiges Charakterbild.
Zurückgenommen, aufs Wesentliche reduziert, waren auch die übrigen Figuren. Georges Weiss zeichnete einen müden, resignierte Schachgrossmeister. In seiner gebrochenen Haltung verloren die Worte ihre eckige Aggressivität, und die unglaubwürdige Figur wurde "möglich". Präzis und geradlinig gab Raoul Serda den Obersten. Wenn er zuweilen in Eintönigkeit verfiel, so liegt das daran, dass ihn sein Text im Stich liess. Hochkonzentriert, verhalten und unauffällig spielte Hans Schatzmann den Mathematiker – ein weitere Beweis seiner Wandlungsfähigkeit.
So brachte das Theater – im Rahmen seiner Möglichkeiten – in die Aufführung ein, was dem Stück abgeht: Qualität, handwerkliche Sauberkeit, Atmosphäre, Psychologie, Spannung. Was für ein Erfolg hätte sich ergeben, wenn dieses Ensemble ein anderes Stück hätte spielen dürfen!
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Eine Idee macht noch kein Stück
Jedem grossen Drama, so möchte ich behaupten, liegt eine einfache Idee zugrunde. Und weil das so ist, lässt sich der Gehalt jedes grossen Stücks in einem Satz zusammenfassen. Im "Ödipus" zum Beispiel geht es um die Macht des Schicksals, dem keiner entrinnt. "Hamlet" zeigt den Konflikt zwischen Sollen (Gebot des Vaters) und Wollen (Charakter des Prinzen). Im "Geizigen" wird die Raffgier verspottet. "Der Besuch der alten Dame" handelt von verjährtem Unrecht, das neues Unrecht schafft.
Eine einfache Idee liegt auch den "Schönen Zeiten" zugrunde, die in Biel zur Uraufführung gelangten. Nämlich "Angst gehört zum Leben des Menschen." So äussert sich René Regenass, der Autor, im Programmheft des Städtebundtheaters.
Nun macht, wie jeder Autor gern zugeben wird, die Idee noch kein Theaterstück aus. Im Gegenteil, eine Idee zu haben, ist das einfachste am ganzen Schaffensprozess.
Ein Beispiel: Der Schriftsteller René E. Mueller war einmal bei Dürrenmatt zu Besuch. Der Alte will wissen, ob sein Kollege etwas in Arbeit habe. Der Schriftsteller winkt traurig ab. "Warum denn nicht?", fragt Dürrenmatt. Mueller seufzt: "Mir kommt nichts in den Sinn! Ich habe keine Idee!" Verwundert schüttelt Dürrenmatt den Kopf. "Schreib doch etwas über deine Frauen", rät er. Aber die Aufforderung kommt bei Mueller schlecht an. "Das gibt doch nichts zu schreiben", ruft er verzweifelt. "Alle meine Bräute waren im Grunde genommen stinklangweilig!" Dürrenmatt lacht auf und reibt sich gemütlich den Bauch: "Dann nimm doch das als ersten Satz: 'Alle meine Bräute waren im Grunde genommen stinklangweilig." So entstand aus einem zufälligen Satz ein 200seitiger Roman, der "Engel der Strasse".
Diese Anekdote zeigt, dass Ideen leicht zu finden sind. Wohl mancher hat sich schon gesagt: Ich möchte mal ein Stück über die Ungerechtigkeit schreiben. Und dann liess er es bleiben, weil er sah: eine Idee macht noch keine Geschichte.
Die Schwierigkeiten stellen sich nämlich jetzt erst ein. Der Schriftsteller steht vor der Aufgabe, seine Idee mit vielen konkreten Einzelheiten aufzufüllen. Dialogzeile um Dialogzeile muss er erfinden, Szene an Szene reihen, bis der Inhalt des Stücks vorhanden ist, in Worten und Handlungen.
Das alles verlangt Überlegung: Was für Personen kommen in Betracht? In welcher Situation befinden sie sich am Anfang des Stücks? Was muss passieren, damit sie miteinander zu handeln beginnen? Wie lässt sich daraus Spannung entwickeln? Worauf soll das Ganze zielen? Wie verläuft die Geschichte?
Man sieht: Es stellen sich Fragen. Fragen der Figurenkonstellation, der Charakterzeichnung, der Handlungsführung, des Dialogs, der Wahrscheinlichkeit, der Atmosphäre – kurz, es stellen sich die Fragen des Handwerks.
Und hier, im Handwerklichen, hat René Regenass versagt. Von Anfang an verstösst er – zum Beispiel – gegen die Wahrscheinlichkeit. Als Ort des Geschehens wählt er einen Coiffeursalon. Und er verlangt als Ausstattung: "Auf dem Boden ein abgetretener, farbiger Teppich." Nun wird aber kein Coiffeur der Welt den Boden mit einem Teppich belegen. Denn wie könnte er sonst die Haarbüschel zusammenkehren? Das Städtebundtheater hat dieses Detail, wie manches andere, in der Aufführung stillschweigend korrigiert.