Das Spiel von Liebe und Zufall. Pierre Carlet de Marivaux.

Komödie.

Neidhardt Nordmann, Wilma Wagner. Städtebundtheater Biel–Solothurn.

Bieler Tagblatt, 5. August 1983.

 

 

Ein ganz feines, anmutiges Stück eröffnet die neue Spielzeit des Städtebundtheaters: Das "Spiel von Liebe und Zufall", das Pierre Carlet de Marivaux erdichtet hat, ist kristallin, durchsichtig, elegant. Gerne hätte man ihm die entsprechende Inszenierung gewünscht. Aber die Aufführung wirkt grob, ohne Konzept und Kunstverstand.

 

Unwahrscheinlich wie im Märchen sind die Voraussetzungen, die Pierre Carlet de Marivaux für sein "Spiel von Liebe und Zufall" angenommen hat. Es waren einmal zwei reiche, angesehene Väter. Der eine hatte eine Tochter, der andere einen Sohn. Das Mädchen hiess Silvia, der Junge Dorante. Die Eltern waren miteinander befreundet. So beschlossen sie, ihre Häuser zu verbinden und die Kinder miteinander zu verheiraten.

 

Als es jedoch soweit war, fanden die Kinder am Plan der Eltern keinen Gefallen. Sie konnten sich eine Heirat ohne Liebe nicht vorstellen. Dies um so weniger, als die Familien in verschiedenen Gegenden des Landes wohnten, so dass sich die beiden Brautleute noch nie gesehen hatten.

 

Eines Tages beschloss der junge Mann, sich auf den Weg zu machen, um seine künftige Frau kennenzulernen. Und damit er die Braut genau so zu sehen bekomme, wie sie in Wirklichkeit sei, fasste Dorante einen schlauen Plan: Er wechselte das Kleid mit seinem Diener. Der Diener sollte sich als Herr ausgeben, und der Herr als Diener.

 

Als aber das Mädchen vom Besuch seines Freiers erfuhr, kam es seinerseits auf den gleichen Gedanken: Um den Bräutigam ungehindert studieren zu können, tauschte es mit seiner Dienerin die Rolle.

 

Und so begegnen sie sich zum ersten Mal: Dorante in der Livree des Dieners, Silvia im Gewand der Magd. Beide stecken in einer ungewohnten Rolle, und das geniert sie. Bald aber mischt sich Erstaunen in ihre Schüchternheit: Mit wachsendem Befremden nehmen die beiden Bürgerskinder wahr, dass sie einen "Dienstboten" anziehend und seine Worte anmutig finden.

 

So beginnt das "Spiel von Liebe und Zufall" mit dem höchsten ästhetischen Reiz: Voreinander tragen Silvia und Dorante eine Maske; der Zuschauer jedoch durchschaut die Verstellung und erkennt das Innere der Figuren.

 

Die Unwahrscheinlichkeit, die dem Stück zugrunde liegt, nannten die Alten den "proton pseudos", die erste Lüge. In unserem Fall besteht die "Lüge" darin, dass zwei Menschen auf den Gedanken kommen, sich voreinander zu verstellen. Ist diese Voraussetzung aber erst einmal etabliert, dann kann der Rest der Handlung konsequent, geregelt und klar ablaufen.

 

Selbstverständlich geht am Schluss der Knoten auf, und hier haben wir es, wenn man so will, mit einer "letzten Lüge" zu tun: Silvia und Dorante geben sich mit Überzeugung das Jawort, und gleichzeitig haben Diener und Dienerin sich als glücklich liebendes Paar zusammengefunden.

 

Bei diesen konventionellen Elementen indes braucht man sich nicht aufzuhalten. Faszinierender als Anfang und Schluss ist im "Spiel von Liebe und Zufall" das "Dénouement": wie es Marivaux gelingt, das Widersprüchliche zu vereinen und Harmonie zu schaffen; Harmonie zwischen Pflicht und Neigung, Herz und Vernunft, Liebesheirat und Standesehe.

 

Hier liegt auch die grosse Kunstleistung des Dichters. Denn der dramatische Konflikt, der das Liebespaar auseinandertreibt, kommt nicht von aussen: Niemand steht der Verbindung von Silvia und Dorante im Weg – ausser sie selbst. Das Hindernis befindet sich also in ihrem Innern. Mit ihrer eigenen Seele müssen sie zurechtkommen, dann ist auch der "dramatische Konflikt" gelöst. Das Augenmerk gilt mithin etwas äusserst Subtilem: der Selbstfindung zweier Charaktere.

 

Um dies alles auszudrücken, hat sich Marivaux eine Sprache geschaffen, die der kristallinen Struktur der Handlung entspricht. Er wollte, dass sich seine Dialoge "von selber verstehen". Dafür mussten sie "klar und deutlich" sein. Und dem Zuschauer sollten sie "wahr" vorkommen. Diese klassische Einfachheit strebte Marivaux an, ohne die Forderung nach Eleganz zu vernachlässigen. Nie durfte der Ausdruck "breit" werden. Daher fragte sich der Dichter stets beim Schreiben: "Lässt sich das Gemeinte nicht noch knapper ausdrücken? Aber ohne dass es an Feinheit verliert?"

 

Die funkelnde Klarheit des Dialogs, die auf diese Weise entstand, nennen die Franzosen heute "marivaudage". Mit diesem Ausdruck ehren sie den kristallinen Stil von Marivaux' Werk.

 

Von dieser klassischen Eleganz indes merkte man an der Aufführung des Städtebundtheaters wenig. Das liegt nicht an der Übersetzung von Alex Freihart, sondern an der Gewöhnlichkeit der Diktion. Die Schauspieler sprechen die Sätze im selben Tonfall, mit dem sie sagen: "Was macht das Wetter?" Und damit fehlt ihren Worten die Seelentiefe, der Zauber der Anmut.

 

Agnes Bühlmann spricht die Silvia, aber ihre Sprache ist ohne Reiz. Die Stimme klingt hart und spröd, die Artikulation ist verkrampft. Ingo Seeckts (Dorante) formt die Worte zu tief im Hals, und seine Sätze haben einen einförmig klagenden Tonfall. So schaffen es die beiden Hauptdarsteller nicht, die Schönheit des Dialogs im Wohlklang des Lautes wiederzugeben.

 

Auch Hans Schatzmann, der Diener, lässt dem Wort nicht genügend Sorgfalt angedeihen. Er schluckt ganze Silben, spricht undeutlich und rasch. Reto Lang (Mario) klingt am Anfang gepresst, spielt sich aber im Lauf der Aufführung frei. Untadelig sprechen einzig Raoul Serda, der Routinier, und die junge, begabte Bettina Kuhn. Die Regie hätte an den Dialogen feilen müssen.

 

Der Einförmigkeit des Dialogs entsprich die Einförmigkeit der Gebärdensprache. Raoul Serda pflegt seine Worte mit einer raschen Bewegung aus dem Handgelenk zu unterstreichen. Reto Lang ist immer bemüht, etwas zu zeigen: Jetzt höre ich zu; jetzt bin ich amüsiert; jetzt habe ich einen Einfall. Diesen Übereifer hätte die Regie dämpfen und aufs richtige Mass bringen müssen.

 

Inge Seeckts lässt anfängerhaft die Arme baumeln, oder dann greift er sich verlegen an den Kopf. Agnes Bühlmann, die eine reiche, wohlerzogene Tochter spielen müsste, wirft die Arme wie ein Hampelmann in die Luft. Die Regie hätte dafür sorgen müssen, dass die vornehme Sprache im Anstand der Gesten eine Entsprechung findet.

 

Komisch, abwechslungsreich und lebendig ist das Gebärdenspiel bei Hans Schatzmann und Bettina Kuhn. Nur fällt ihre derbe Komik aus dem Rahmen des Stücks. Um Harmonie im Ganzen zu gewinnen, hätte die Regie dämpfend eingreifen müssen.

 

An den Gewändern von Wilma Wagner ist nichts auszusetzen. Sie sind vornehm und kleidsam. Eine merkwürdige Ausnahme aber macht das Kostüm von Hans Schatzmann, dem Diener im Kleid des Herrn. Die Farben sind hier lebhaft, und breite, bunte Bänder verraten einen angeberischen Charakter. Warum diese Äusserlichkeiten? Viel reizvoller wäre es gewesen, wenn die Regie den lumpigen Charakter des Dieners durch den vornehmen Kleiderstoff hätte durchschimmern lassen.

 

Ebenso aufgesetzt wie der Bänderschmuck an Schatzmanns Kostüm wirkt die Bühnenmusik von Daniel Zimmermann (Gitarre) und Thomas Oechslin (Flöte). Sie dient zunächst dem Zweck, die Vorstellung zu eröffnen. Gut. Dann wird sie verwendet, um Aktschlüsse zu markieren. Auch gut. Doch daneben setzt sie, ein einziges Mal, mitten in der Handlung ein. Da, wo sich Dorante und Silvia zum ersten Mal begegnen, wird der Dialog durch die Töne abgelöst, und die Schauspieler müssen sich pantomimisch verständigen. Die Musik, die hier erklingt, ist zwar ganz hübsch. Aber sie drückt nichts Zusätzliches aus. Sie sagt nichts über das Gefühl der Darsteller, sie erfüllt keine dramaturgische Funktion. Die Regie hätte auf diese Arabeske verzichten müssen.

 

Wir haben nun alle Elemente der Aufführung betrachtet: den Dialog, das Gebärdenspiel, die Musik und die Kostüme. Keines dieser Elemente zeigte harmonisches, sinnvolles Mass. Es fehlte an Konzept, Koordination, Geschmack. Schuld daran ist, wenn ich es recht erkenne, ein Mangel an Regie. Neidhardt Nordmann hat es versäumt, der Inszenierung eine Einheit zu geben; er unterliess es, Übertriebenes zu dämpfen und Starres geschmeidig zu machen. So erklärt es sich, warum die Aufführung als Ganzes den kristallinen Stil von Marivaux' Komödie verfehlt.

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