Robert Carsen (Porträt)

Seltsame Erscheinung am Nachthimmel der Opernroutine:

Robert Carsen (Komet).
Porträt.

T! Dezember 1990.

 

 

Ein traurig' Los zeigt uns die Oper: Rodolfo, seines Zeichens "poeta", lebt an der Armutsgrenze, um "1830 circa – a Parigi". Vom Atelier aus, wo er mit drei Freunden wohnt und arbeitet, sieht man auf die verschneiten Dächer der Stadt. Es ist Heiliger Abend, doch Rodolfo hungert und friert. Das Küchenregal ist leer, der Ofen kalt. So verlangt es die Oper, so verlangt es Puccini.

 

Im Grand Théâtre de Genève ist Luciano Pavarotti als Rodolfo vorgesehen – nicht eben die ideale Besetzung, was das Aussehen betrifft: Statt des flaumbärtigen Jünglings ein 52jähriger Familienvater. Statt des hohlwangigen "poeta" ein 140 Kilogramm schwerer "tenore". Doch in der Oper kommt es bekanntlich weniger aufs Aussehen an als auf die Stimme.

 

Und gegen Pavarottis Stimme ist nichts einzuwenden. Als er 1984 in Genf den "Maskenball" sang, übernahmen 56 Radiostationen die Vorstellung, unter ihnen Tokio, Sydney, Moskau, London, Paris. Und acht Fernsehstationen kauften den Mitschnitt der Aufführung.

 

Kein Wunder also, stehen nun die Genfer, um "Pavas" Stimme zu hören, eine ganze Nacht lang an, unter winterlichen Temperaturen, im Januar 1987. Denn nun singt er Rodolfo, seines Zeichens "poeta", in der "Bohème". Um sieben Uhr früh organisiert das Theater die Schlange, verkauft die Billette, und eine Stunde später sind alle verfügbaren Plätze weg, 1200 Stück.

 

Doch was sind die Karten wirklich wert? Das Gerücht wird laut, der Star werde nicht auftreten. Und das Grand Théâtre verbreitet ein Communiqué: In der ersten Hälfte der Vorstellungen werde Herr Pavarotti nicht singen können, "aus gesundheitlichen Gründen". Man hoffe aber, dass er zur zweiten Hälfte der Vorstellungen komme.

 

Die Journalisten vernehmen Abenteuerliches: Pavarottis Blutdruck sei schuld an der Absage, denn er mache ihm das Fliegen zum Risiko. Wenn im Flugzeug der Druck der Kabine abfallen sollte, bestehe die Gefahr, dass dem Star eine Ader platze.

 

Pavarotti also kommt nicht. Vergebens sind die Genfer eine ganze Nacht lang angestanden, vergebens hat das Grand Théâtre eine dreissigjährige Inszenierung ausgegraben, die Gian Carlo Menotti fürs Festival von Spoleto erarbeitet hatte und deren Dekors seither in den Dépôts der Pariser Oper schlummerten.

 

Dass man in Genf dieses Fossil überhaupt ausgrub, hängt mit Pavarotti zusammen. Der Star war nämlich mit der Menotti-Inszenierung vertraut, er hatte bereits darin gesungen und konnte sich mithin die Proben in Genf schenken. Seine Idee war, erst zu den Schlussproben nach Genf zu fahren, beziehungsweise zu fliegen.

 

Nun fehlt aber an den Proben nicht nur der grosse Tenor, sondern auch der greise Menotti, der sich, mit 86 Jahren, nicht mehr um die Regie kümmern mag. Es braucht mithin einen Einspringer für Pavarotti (Peter Dvorski) und einen Einspringer für Menotti (Robert Carsen). Dvorski ist ein Begriff. Aber Carsen? Nie gehört. - Man braucht sich Carsen auch nicht zu merken. Im Programmheft figuriert er nicht als Regisseur, sondern bloss als Reglierer: "Mise en scène: Gian Carlo Menotti, réglée par Robert Carsen".

 

Carsen hat Menottis Inszenierung mit eigenen Augen nie gesehen. Als sie 1960 in Spoleto herauskam, war er gerade sechs Jahre alt und lebte mit den Eltern in Kanada. Für seine Arbeit im Grand Théâtre stützte er sich auf eine Aufzeichnung aus dem Palais Garnier, wo Menottis Produktion 1973 nochmals gegeben worden war. Was auf diesem Mitschnitt fehlt, muss er aus der eigenen Phantasie ergänzen. Und das ist nicht wenig.

 

Offen ist zum Beispiel die Frage, wie die Bewegungen der Statisten im 2. Akt zu organisieren sind, wo das Café Momus und das Gedränge der Volksmenge auf den Boulevards verlangt ist. Normalerweise schickt man die Statisten hinten um die Bühne und lässt sie von der andern Seite her wieder auftreten. Carsen aber ist mit dieser Karussell-Lösung nicht zufrieden und imitiert statt dessen das Gewimmel des Ameisenhaufens, indem er die Gänge der Statisten der Theorie des Chaos unterwirft. Auf diese Weise wird der zweite Akt in Genf zu einem Kabinettstück veristischer Choreographie.

 

Daneben zeigt Carsen ganz beiläufig, was professionelles Ausleuchten der Bühne bedeutet. Für die Dachkammerakte 1 und 4 schafft er ein Rembrandt'sches Helldunkel, in dem die braunen Joppen der Sänger mit dem Schatten des Hintergrunds verschwimmen, während die Gesichter als blasse Scheiben im Raum schweben.

 

Wir haben, wie gesagt, Heiligen Abend. Die Freunde ziehen aus zum "réveillon", Rodolfo bleibt allein zurück, will noch ein paar Sätze schreiben, nur einen Moment, "cinque minuti". Doch die Inspiration lässt ihn im Stich, er wirft die Feder weg. Im Orchester: Generalpause. "Mettere sordina", verlangt die Partitur. Das Tempo hat sich verlangsamt, von Allegretto zu Lento. Die Streicher hauchen ein vierfaches Piano, und von aussen hört man eine leise Stimme: "Scusi". Rodolfo: "Una donna!"

 

Carsen inszeniert die erste Begegnung des Liebespaares mit höchstem Feingefühl. Die Bewegungen, die er machen lässt, wirken unaufdringlich-realistisch, folgen aber in Wirklichkeit der Partitur. Das Klarinettensolo mit seinen abfallenden Achteln leitet Mimis Schwächeanfall ein. Wort, Ton, Gestus sind eins.

 

Um elf Uhr abends verlassen wir Kritiker die Oper. Wie im Taumel setzen wir uns ins "Lyrique". Donnerwetter, dieser Carsen! Wir besprechen die Aufführung und vergessen, von Pavarotti zu reden.

 

Indes, auch Carsen rückt aus dem Gedächtnis. Der Verschleiss an Namen in den Stagione-Theatern von Lausanne und Genf ist gross. Beide Häuser können nur in einem schmalen Segment des Business mitbieten. Darum tauchen die Künstler nur zwei, drei Mal in der Westschweiz auf, bevor sie ihre Karriere anderswo fortsetzen.

 

Carsens zweite Inszenierung ist in Lausanne: "Ariadne auf Naxos". Ein schwieriges Stück. Das wussten schon die Autoren, als sie festhielten, es handle sich bei dieser Oper um "eines der allerheikelsten Gebilde, eines der aller-inkommensurabelsten". Über die Zerbinetta-Arie zum Beispiel sagte Hofmannsthal: "Ein solches Stück wird, das darf ich wohl sagen, von niemandem, der heute in Europa schreibt, in seiner Art übertroffen werden." Und Strauss seinerseits wusste: "Meine Partitur ist als Partitur wirklich ein Meisterwerk, das mir so bald keiner nachmacht."

 

Doch bei allen Qualitäten ist die Realisierung des Werks unendlich schwer. Seine Struktur hat es in sich: "Das ausgeklügelt Enge dieses Spieles, diese zwei Spielergruppen nebeneinander, engster Raum, sorgfältigste Berechnung jeder Gebärde, jedes Schrittes, das Ganze ein Konzert und gleichzeitig ein Tanz". So kommen die Autoren zur Überzeugung: "Diese Oper, als ein aus Teilen komponiertes Ganzes gedacht, kann nur dort existieren, wo ein höheres theatralisches Genie Teile zu einem Ganzen zu formen imstande ist." Und Strauss ergänzt: "Ich kann nur mit einem erstklassigen Orchester, das seit 100 Jahren eingespielt sein muss, und einem Sängerpersonal arbeiten, das in vereinzelten Exemplaren nur an den ersten Hoftheatern zu finden ist."

 

Man wird unter diesen Umständen nicht gerade von Lausanne die ideale "Ariadne"-Aufführung erwarten. Denn hier steht kein seit Jahren eingespieltes Ensemble zur Verfügung, sondern die Sänger wurden für diese Produktion zusammengewürfelt. Ihre Muttersprache ist französisch, japanisch, englisch, niemand spricht deutsch. Und doch ist das im Augenblick der Aufführung unerheblich, weil "ein höheres theatralisches Genie" am Werk war. Jede Zeile des Strauss-Hofmansthal'schen Briefwechsels hat der Regisseur mitinszeniert, und er erfüllt damit das Erfordernis des Gelingens: "Liebe braucht ein solches Ding, Enthusiasmus, imprévu braucht eine Bühne, die sich bewusst ist, heute das Ausserordentliche zu leisten, nicht die entsetzliche Atmosphäre des Gewöhnlichen, die graue Routine, den Dirigenten mit kaltem Herzen, die Opernsänger, die es eben heruntersingen. Ums Leben muss es allen gehen, das Unmögliche muss möglich gemacht werden."

 

Hier, in Lausanne nun, verrät sich eine solche Vertrautheit mit dem "allerheikelsten Gebilde", dass die Bühne unversehens die geheimsten Gedanken von Hofmannsthal und Strauss ausplaudert. "Am besten", schrieb Strauss an Hofmannsthal, "kommen Sie selbst zu den Proben hin, dass die dortigen Regisseure nicht zuviel selbstschöpferisch sind."

 

Bei Carsen war Hofmannsthal dabei. Bis zur grossen Steigerung am Schluss der Oper spürt die Inszenierung den Absichten der Autoren nach: "Mit dem Auftreten des Bacchus sind wir mit eins in dem Schoss grosser Poesie, hoher Musik. Hier weiss ich ganz genau, was mir vorschwebt, aber nur Reinhardt kann mir's realisieren, hier muss ein Wunder an Beleuchtung (Dunkelheit von überall, magisches Licht von oben) die puppenhafte Bühne in eine traumhaft grosse verwandeln – vielleicht die Kulissen ganz verschwinden" (Hofmannsthal). Dieses "Wunder an Beleuchtung" realisiert sich nun mühelos im Théâtre Municipal de Lausanne. Wie kommt das? Nach der Premiere erkundige ich mich bei der Pressereferentin nach dem Regisseur und vernehme, er habe die Aufführung zwei Jahre lang vorbereitet. Ich beschliesse, mir den Namen zu merken.

 

Sechs Monate später inszeniert Carsen wieder eine deutsche Oper, wieder mit fremdsprachigen Sängern, wieder in der Westschweiz: "Hänsel und Gretel" von Engelbert Humperdinck, die Weihnachtsproduktion des Grand Théâtre de Genève für 1987. Ich habe keine Erinnerung mehr daran. Ich weiss nur noch, dass Carsen die Chancen der Partitur nicht wahrnahm. Die Zwischenspiele von Wagnerscher Länge erklingen zwar bei offenem Vorhang, doch die Bühne spielt nicht mit. Ohne Zauber verflüchtigt sich die Abendstimmung im zweiten Bild: Hänsel, der den Weg nicht mehr weiss, Gretel, die sich zu fürchten beginnt, der Wald, der ins Dunkel zurücksinkt – alles bleibt blass und konventionell.

 

Hugues Gall, der Genfer Operndirektor, versucht, mich nach der Aufführung zu trösten: "Hänsel und Gretel' war nur eine Fingerübung, damit sich Carsen mit den Dimensionen des Hauses vertraut machen kann. Schauen Sie sich nächsten Herbst seinen 'Mefistofele' an und urteilen Sie dann." Also gut, on verra.

 

"Mefistofele" indes ist ein immenser Brocken. Kaum ein Werk gab so viele Probleme auf wie Goethes "Faust", den Boito vertont hat. "Faust" ist widersprüchlich, mehrschichtig, rätselhaft, fremdartig. Goethe bezeichnete ihn auch gar nicht als "Stück", sondern als "Ragout". "Faust" und "Ragout" haben miteinander gemeinsam, dass beide nicht aus einem Stück bestehen. "Es hätte in der Tat ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches, buntes und so höchst mannigfaches Leben, wie ich es im 'Faust' zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einzigen, durchgehenden Idee hätte reihen wollen!" Und Goethe fand: "Wenn der Narr durch alle Szenen läuft, ist das Stück genug verbunden." Mephisto also ist die Sauce, in der die einzelnen Stücke des Ragouts schmoren. Er begleitet Faust durch alle Stationen "vom Himmel durch die Welt zur Hölle" (Goethe).

 

Doch wie kann das Theater eine solche Spannweite zum Ausdruck bringen? Goethe selber war der Auffassung, "Faust" sei nichts für die Bühne. In seiner 25jährigen Direktionszeit kam er nicht ins Weimarer Hoftheater, und auch Goethes Zeitgenossen liessen die Finger davon. Erst das Nationaltheater Braunschweig machte sich vor 160 Jahren an eine reduzierte Fassung. Und diese Uraufführung unter Klingemann zeigt, dass schon die erste Inszenierung des Stücks nicht darum herumkam, zusammenzustreichen, zu vereinfachen, zu vergröbern.

 

Doch die Kürzungen und Verkürzungen, die das Sprechtheater vornehmen muss, fallen gar nicht ins Gewicht gegenüber den Simplifizierungen, zu denen die Opernbühne gezwungen ist. So definiert Arrigo Boito mit kaum mehr überbietbarem Schematismus: "Wer nach dem Unbekannten, dem Idealen strebt, ist Faust". Punkt. Und "Mephistopheles ist die Schlange im Garten Eden, die Inkarnation des ewigen Nein." Punktum.

Weil Boito die Dinge so einfach sieht, kann er auch die beiden Teile des "Faust" in eine einzige Oper zusammenziehen, deren Spieldauer 2 Stunden 40 Minuten nicht übersteigt. Und dieses Büchsenragout nun bringt Carsen in Genf heraus.

 

Die Vorstellung beginnt damit, dass uns Carsen zunächst mit der äussersten Schicht der Bühne konfrontiert, dem eisernen Vorhang. Erst als das Licht im Zuschauerraum erlischt, geht der Eiserne hoch und bringt den altgewohnten roten Stoffvorhang zum Vorschein. Die zweite Schicht. Auch sie wird weggehoben und gibt den Blick frei auf einen üppig dekorierten, in trompe-l'oeil-Manier gemalten Theatervorhang aus dem 19. Jahrhundert. Dritte Schicht. Auch dieser Vorhang wird weggezogen. Nun stösst der Blick auf einen bescheideneren Vorhang, der aber durch ein feudales Portal mit Stuckengeln eingerahmt wird. Wir sind im 18. Jahrhundert, vierte Schicht. Schon dieses schichtweise Eindringen macht deutlich, dass die Inszenierung die Mehrschichtigkeit des Werkes kennt und herausarbeiten will. Und diese Absicht wird kenntlich noch während des Vorspiels, in dem Boito mit Fanfarenstössen Erhabenheit herbeizwingt.

 

Ein letzter Vorhang ist mittlerweile zum Vorschein gekommen. Er steht in Flammen, und diese gemalten Flammen zeigen, dass etwas Elementares vom Theater Besitz genommen hat: das Feuer. Wie alle Goetheschen "Urphänomene" ist es ambivalent: Es verweist einerseits auf die Flammen der Hölle (wo Mephisto herkommt), und es verweist anderseits aufs göttliche Licht (das Faust anlockt). Himmel und Hölle also zusammengefasst in einem einzigen Symbol, dem brennenden Vorhang, der, weil das Feuer nur gemalt ist, darauf hindeutet, dass alles, was der Zuschauer fortan sehen wird, nur ein Zeichen ist, ein Gleichnis, das "vom Himmel durch die Welt zur Hölle" (Goethe) führt.

 

Die Länge von Boitos Vorspiel gibt dem Zuschauer sattsam Raum zu solchen Gedanken, denn noch immer dröhnen die Fanfaren. Sie leiten ein zum "Prolog im Himmel". Doch wie kann das Theater diese Sphäre vor Augen führen, ohne in Blasphemie oder Kitsch zu verfallen? Arrigo Boito gibt sich Mühe, das Metaphysisch-Jenseitige durch mächtige Chöre zu fassen. In Genf sind sie unsichtbar. Gezeigt wird nichts als der leere Himmel, über den Wolken ziehen, die wiederum als eine Art Vorhang die Tiefe des Universums verbergen.

 

Doch im Mass, wie die Inbrunst der Stimmen wächst, steigert sich auch die Wirkung des Bilds im Grand Théâtre. Sterne fangen an, im Blau des Himmels zu leuchten, für einen kurzen Moment erglänzt ein Bild höchster Schönheit, dann gleitet der Wolkenvorhang weg, und wir blicken in den Zuschauerraum eines venezianischen Opernhauses. Was wir für Sterne hielten, waren in Wirklichkeit die Birnen der Logenbeleuchtung. Und die Engelsstimmen gehörten in Wirklichkeit den Venezianern in weissen Masken (die wieder als eine Art Vorhang das Gesicht verdecken). So aber zeigt sich, dass wir auf dem Theater nie das Eigentliche sehen. Denn "eigentlich" sehen wir nicht ein italienisches Rangtheater, sondern eine Kulisse. Und wir sehen "eigentlich" keine Venezianer, sondern Choristen der Genfer Oper. Das Theater kann eben nur reden, indem es zur Verstellung greift und mit Maske, Kostüm und Kulisse arbeitet. Und so veranschaulicht das Ganze den Satz des Alten: "Die Poesie sagt wahr, indem sie lügt."

 

Diese Vielfalt von Bezügen und Anspielungen schafft Robert Carsen in den ersten fünf Minuten des "Mefistofele", und er wird damit Goethes symbolischer Theaterauffassung von Anfang an gerecht. Die Inszenierung korrigiert mithin die Eindimensionalität von Boitos Oper.

 

Die nächste Inszenierung, die ich von Carsen sehe, ist eine Studie der Einfachheit. Er experimentiert mit der Statik der Personenführung und mit der Wirkung des leeren Raums. Für "Lucia di Lammermoor" hat Carsen die Zürcher Opernhausbühne grau-schwarz auskleiden lassen. Schiefe Wände deuten schon im ersten Bild auf schiefe Verhältnisse. Die Menschen darin sind unfrei. Ihre Gesichter sind verschlossen, ihre Gebärden knapp. Die Sänger gleichen tönenden Säulen.

 

Der Stammsitz der unglücklichen Familie Ashton ist damit ein Sartresches "huis clos". Nichts bewegt sich, alles ist starr, auch die Dienerschaft, auch die Wachmannschaft mit ihren Piken. Das bewegte Leben findet sich hinter den Mauern, draussen. Da webt die Natur, da wechseln Tag und Jahreszeiten, da bewegen sich freie Menschen.

 

Den Gegensatz zwischen aussen und innen, Starrheit und Bewegung ist symbolisiert in einer flatternden Fahne aus schwarzem Tuch. Der Wind zerrt an ihr, doch sie ist festgebunden und kommt nicht los, so wie die Menschen im Schloss festgebunden sind und nicht loskommen von ihrem Verhängnis.

 

Auch im letzten Bild setzt Carsen das Tuch als Symbol ein. Doch diesmal ist es nicht die schwarze, flatternde Fahne, sondern ein weisses, schlaffes Bettlaken, das Lucia hinter sich herzieht. Sie hat soeben im Brautgemach den aufgezwungenen Gatten erstochen, und jetzt kommt sie zurück in die Hochzeitsgesellschaft, und alle merken: Sie hat den Verstand verloren.

 

So wird für sie das blutverschmierte Bettuch zum Geliebten, den sie nicht heiraten durfte. Ihn küsst und herzt sie, indem sie das Laken an sich zieht. Wir Zuschauer aber kennen diese Gebärde schon aus dem zweiten Bild. Damals sprach Lucia im Mädchenzimmer mit ihrem Geliebten und herzte im Überschwang des Glücks das Kissen an ihrer Brust.

 

Damit schafft Carsens Regie Zusammenhänge durch die ganze Oper hindurch, und sie stellt klar, dass Lucia den Körper des Geliebten stets denken musste. Nie konnte sie ihn umarmen, stets nur musste sie Surrogate herzen. Und nun wird sie im Hochzeitsbett plötzlich vom Körper eines Mannes bedrängt, den sie nicht liebt. So wird die Realität für Lucia zum Alptraum. Sie flieht daraus in den Wahnsinn, der eine Welt des Friedens im Irrsinn der Wirklichkeit bedeutet.

 

Ist eine Steigerung möglich? In Genf spürt Carsen nachmals der Statik der Personen und der Wirkung des leeren Raums nach, in einer ähnlich blutrünstigen Oper wie "Lucia di Lammermoor". Diesmal sind es "I Capuleti e i Mantecchi". Wieder sind die dramatischen Hell-Dunkel-Effekte zu bewundern, wieder erfährt man die suggestive Kraft der Personengruppierungen, wieder zeigt sich dieselbe kompromisslose Schlichtheit der Darstellung. Doch der Abend packt mich nicht.

 

Was fehlt? Ich denke, meine Langeweile hängt damit zusammen, dass Carsen diesmal das Symbol nicht gefunden hat, das die Aufführung zusammenhält. Er verwendet zwar das durchgängige Requisit des Degens, der einen Rahmen von Gewalt um Romeo und Julia zieht. Doch im Unterschied zum Laken aus Lucias Hochzeitsbett bleibt der Degen ein Degen, während das Laken für Lucia zum Geliebten wurde, und für den Zuschauer kam als dritte Schicht die Erinnerung ans unschuldige Kissen des Mädchenzimmers dazu. Die "Capuleti" stehen mithin nicht auf der Höhe der vorangehenden Arbeiten. Doch die Schwäche dieser letzten Inszenierung wird mich nicht daran hindern, Robert Carsen als einen Kometen am Nachthimmel der Opernroutine aufzufassen.

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