Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Bertolt Brecht/Kurt Weill.
Jeffrey Tate, Kurt Josef Schildknecht, Werner Hutterli. Grand Théâtre de Genève.
Radio DRS-2, Reflexe, 14. Mai 1992.
(Musik)
Eben sind sechs Mädchen angekommen. In Mahagonny, der Goldstadt, wollen sie reich werden, indem sie ihren Körper verkaufen für Geld. Mit dem Koffer in der Hand stehen sie da, und sie fragen nach dem Weg zur nächsten Whisky-Bar: "Oh show uns the way to the next Whisky-Bar..."
(Musik)
"Wenn wir den Weg nicht finden, müssen wir sterben" – "I tell you, we must die..."
(Musik)
In diesem Schlager, der sich so gefällig im Ohr einnistet, geht es, vom Text her, um Leben und Tod. Wenn die Mädchen die Whisky-Bar nicht finden, kommen sie nicht an die Boys heran. Und ohne Boys kommen sie nicht zu Geld. Ohne Boys kein Geld. Ohne Geld kein Leben. Das alles klagen die sechs Mädchen dem Mond; dem Mond von Alabama. Wir brauchen Geld, singen die Mädchen, weil wir unsere gute alte Mama verloren haben, die für uns sorgte, die uns ernährte und beschützte: "Oh moon of Alabama, we've lost our good old mama"...
(Musik)
Dem Mond wird das Leid geklagt, dem Mond, der am fernen Nachthimmel seine Bahn zieht, der jeden Abend eine andere Gestalt hat, mal zunimmt, mal abnimmt, und in dieser Wechselhaftigkeit das Symbol ist für den Unbestand aller Dinge. "Aber dieses ganze Mahagonny", so singen die Männer, "ist nur, weil alles so schlecht ist, und weil es nichts gibt, woran man sich halten kann."
(Musik)
Der Mond also – ein Symbol für Mahagonny, und Mahagonny wiederum ist ein Symbol für die Marktwirtschaft, in der es nichts gibt, woran man sich halten kann. Wie der Mond zu- und abnimmt, so sinken und fallen in Mahagonny die Preise, so wechseln die Phasen der Konjunktur ab mit den Phasen der Rezession.
"Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" – diese Oper von Bertolt Brecht und Kurt Weill hat jetzt im Grand Théâtre de Genève eine Aufführung erfahren, die ihr gerecht wird. Inszenierung und musikalische Realisation nämlich stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander.
Dialektisches Verhältnis aber bedeutet, dass es ein Einerseits und ein Anderseits gibt. Einerseits ist da die Inszenierung. Sie betont das Gleichförmige, das Stete, so wie auch der Mond seine Bahn zieht, unabhängig davon, ob sein Schein zu- oder abnimmt. Die musikalische Interpretation anderseits betont das Wechselhafte, das Ungarantierte, das Flexible, das Biegsame, und so betont sie als Gegengewicht zur Kargheit der Bühne den Reichtum der Komposition. Je vielfältiger, je differenzierter aber die Nuancen sind, die der Dirigent Jeffey Tate aus der Partitur holt, desto unabweisbarer tritt auch die Strenge von Kurt Josef Schildknechts Inszenierung hervor. Schildknecht und sein Bühnenbildner Werner Hutterli fassen Mahagonny auf als kaltes kapitalistisches Unternehmen. Hier, in der Goldstadt, wird getauscht: Whisky gegen Geld, Fleisch gegen Geld, Liebe gegen Geld, gerechte Gerichtsurteile gegen Geld. Je grösser aber der Markt, desto genormter die Bedürfnisse. Je genormter die Bedürfnisse, desto gleichförmiger die Kunden. Je gleichförmiger die Kunden, desto grauer die Welt. So wird die Bühne im Lauf der Aufführung immer fahler und farbloser, bis am Schluss alles ins bleierne Licht der Hoffnungslosigkeit getaucht ist.
Im Orchester aber blüht es, der Dirigent Jeffrey Tate, der eben "Mahagonny" an der Met herausgebracht hat, treibt die Sänger und die Musiker des Orchestre de la Suisse Romande zu Höchstleistungen an. Doch während es im Orchestergraben singt und klingt und swingt, stampfen die Menschen im Gleichschritt dem Ende entgegen und singen dazu: "Können uns und euch und niemand helfen." Sie glauben an die Macht der Sachzwänge und an die Unabwendbarkeit des Untergangs. "Können uns und euch und niemand helfen", singen sie im Kehrreim, unbelehrt und unbelehrbar. Sie schreiten und schreiten. Die Musik ist längst verstummt. Aber sie schreiten noch immer. Und wenn sie nicht gestorben sind, so schreiten sie heute noch. Der Vorhang fällt. Bis zuletzt eine exemplarische Aufführung.