Unsere kleine Stadt. Thornton Wilder.

Vilmos Désy. Städtebundtheater Biel–Solothurn.

Bieler Tagblatt, 15. September 1980.

 

 

Ist die Welt noch in Ordnung?

 

Manches war am vergangenen Samstag ungewöhnlich und – hoffentlich – verheissungsvoll. Ungewöhnlich war der Aufmarsch des Publikums: Die gesamte Bieler Prominenz hatte sich eingefunden und füllte Parkett, Balkon und Galerie fast bis zum letzten Sitz-, ja Stehplatz. Ungewöhnlich war auch der überaus herzliche und warme Applaus, mit dem die Premiere von Thornton Wilders "Unsere kleine Stadt" bedacht wurde. Und verheissungsvoll war schliesslich die Leistung, die das Ensemble des Städtebundtheaters darbrachte. Am Eröffnungstag also zeigte sich: die Bieler interessieren sich für ihr Theater. Und es zeigte sich, dass das Theater ihr Interesse verdient. – Kann man sich mehr wünschen?

 

 

Um 5.45 Uhr fährt der Zug nach Boston. Gegen sechs Uhr bringt Howie Mewsome die Milch, und Si Crowell, der Zeitungsjunge, verträgt das Morgenblatt. Gegen sieben Uhr wird es in den Häusern lebendig, und die Familien versammeln sich zum Frühstück. Dann gehen die Kinder zur Schule, und die Mütter besorgen den Haushalt.

 

So beginnt der Tag in Grover's Corners, aber nicht nur ein Tag, sondern jeder Tag. Sommer und Winter, jahraus, jahrein hat alles seine Ordnung und seinen Trott.

 

Das Stück von Thornton Wilder handelt demnach von der Alltäglichkeit. Es zeigt einfache, durchschnittliche Menschen und die gewöhnlichen, unvermeidbaren Lebenssituationen wie Kindheit und Jugend, Hochzeit und Tod. So ist die Welt, sagt Thornton Wilder, und sie ist gut so.

 

Am Schluss des ersten Akts, nachdem er einen beliebigen Tag aus "unserer kleinen Stadt" vom Morgen bis zum Abend vorgeführt hat, lässt Wilder die vierzehnjährige Rebekka sagen:

 

"Ich habe dir nie von dem Brief erzählt, den Jane Crofut von ihrem Pfarrer erhielt, als sie krank war. Er schrieb Jane Crofut einen Brief, und auf dem Umschlag stand: Jane Crofut, Crofut-Farm, Grover's Corners, Sutten County, New Hampshire, Vereinigte Staaten von Amerika." – "Was ist daran so komisch?", fragt ihr Bruder. – "Warte", antwortet Rebekka, "es ist noch nicht zu Ende. Vereinigte Staaten von Amerika, nordamerikanischer Kontinent. Westliche Halbkugel. Erde. Sonnensystem. Weltall. Geist Gottes – das alles stand auf dem Briefumschlag."

 

Was der Pfarrer auf das Briefcouvert setzte, ist eine Art Glaubensbekenntnis. Von Jane Crofut in New Hampshire zieht er die Kreise immer weiter, nach Amerika, über die Erde, ins Sonnensystem, ins Weltall, und dann, wenn sich die Dimensionen im Unvorstellbaren zu verlieren drohen, schreibt der Pfarrer ein letztes Wort: "Geist Gottes".

 

Der Geist Gottes ist es, der all diese Kreise umfängt. In ihm ist das Schicksal des kleinen, kranken Mädchens aufgehoben, aber aufgehoben ist auch das Schicksal von Ländern, Weltteilen und Sternen. Der Mensch, sagt Wilder damit, ist nicht verloren in der Unermesslichkeit des Alls. Sondern er darf sich geborgen fühlen in Gottes Allmacht, die das Ganze trägt.

 

Ob wir heute die Welt und das Leben noch auf diese gläubige Weise erfahren können, ist eine Frage, die sich stellt. Zweifel daran waren schon verbreitet, als Wilder das Stück herausbrachte. Denn 1938, ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, war die geordnete Alltäglichkeit von "unserer kleinen Stadt" bereits für jeden denkenden Menschen ernsthaft gefährdet. Und wir haben heute noch immer Anlass zu zweifeln, ob alles zum Besten bestellt ist.

 

Aus diesem Grund sind jene Stimmen ernstzunehmen, die Wilders Weltanschauung bekämpfen. Sie sagen, Wilder predige Resignation, Bescheidung vor den Schicksalsschlägen. Und in der Tat: Als die 26jährige Emily ins Totenreich kommt, wird sie ermahnt, sich ins Unvermeidliche zu schicken: "Pst! Liebes! Ruh dich aus!" Aber – so lautet der Einwand – darf man das sagen?

 

Wohl hat der Tod das letzte Wort. Aber das vorletzte hat der Mensch. Wohl muss man sich ins Unvermeidliche fügen, aber das Vermeidbare soll man bekämpfen. Gegen Krieg, Hunger, Gewalt und Umweltzerstörung kann man nicht nur etwas machen, man muss es sogar. Doch darüber spricht das Stück nicht. Und so wird es verdächtig durch das, was es verschweigt.

 

Auf sehr subtile Weise bringt auch die Inszenierung solche Bedenken an. Denn es gibt in Grover's Corners eine Gestalt, um die man sich kümmern müsste, statt bloss über sie zu tratschen: Simon Stimson, den Trinker und Kirchenorganisten. Doch Dr. Gibbs reagiert anders: "Wir können nur eins tun: uns nicht darum kümmern."

 

Regisseur Vilmos Désy lässt das spielen, indem er Dr. Gibbs und seine Frau in der ehelichen Umarmung zeigt. Und wenn Dr. Gibbs weiterfährt und sagt: "Komm, gehen wir hinein", dann weiss der Zuschauer, wohin Dr. Gibbs will: Zum Liebesspiel ins Ehebett. Der Trieb, zeigt die Inszenierung, ist stärker als die Verantwortung für den Menschen.

 

Mit solchen subtilen Gegengewichten versehen, ist das Stück spielbar. Das Menschliche, Anrührende, Ehrliche bleibt erhalten, aber dort, wo es verdächtig wird, bleibt die Inszenierung hart. Das zeigt sich auch in der Figur des Spielleiters (von Georges Weiss souverän verkörpert). Wenn Wilder ihm allzu Süssliches in den Mund legte, stellte es die Inszenierung bloss, indem Weiss in Ausrufergesten oder Predigerschmalz fiel.

 

Und so kann man der Aufführung mit gutem Gewissen folgen. Man kann sich rühren lassen von der Begegnung der beiden jungen Menschen (Rolf Schwab und Eleonore Bürcher), man kann mit Genuss den beiden tratschenden Müttern zusehen (Gerda Zangger und Karin Minet), und man wird finden, dass die siebzehnköpfige Schauspielerschar eine beachtliche und homogene Leistung zustandegebracht hat, die man aufrichtig weiterempfehlen kann.

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