Die venezianischen Zwillinge. Carlo Goldoni.
Komödie.
Franz Matter. Städtebundtheater Biel–Solothurn.
Bieler Tagblatt, 7. August 1984.
Das Naturkind vom Museumsgarten
Das diesjährige Sommerspiel des Städtebundtheaters ist für den Garten des Museums Robert eingerichtet. Als derbes Naturkind ist es dort in seinem Element. Wird es aber – bei schlechtem Wetter – im geschlossenen Theaterraum gezeigt, dann fehlen ihm Esprit und Manieren. Draussen aber ist die Inszenierung von Carlo Goldonis Komödie ein voller Erfolg.
Die Premiere hätte im Garten des Museums Robert stattfinden sollen, unter der mächtigen, weit ausladenden Buche. Doch der Wetterbericht war schlecht. Und die Flugwetterzentrale in Kloten bestätigte die allgemeine Tendenz zu heftigen Gewittern. Wohl möge es einzelne Aufhellungen geben, aber sie seien von kurzer Dauer. So entschied Peter-Andreas Bojack als Direktor des Städtebundtheaters um 17.30 Uhr: "Wir spielen drin." Und das Freilichtspiel wurde ins Stadttheater verlegt.
Es macht indes einen Unterschied, ob man "drin" spielt oder "draussen". Im Stadttheater sind die Verhältnisse, wenn man so will, "klinisch rein". Die Akustik des Raums unterstützt die Stimme der Schauspieler; Wände und Fenster halten den Lärm der Aussenwelt fern; die gestuften Zuschauerreihen sorgen für ideale Sichtverhältnisse; der vergoldete Bühnenrahmen fasst den Spielplatz zusammen und bündelt den Blick des Publikums.
Draussen aber ist das Theater mancherlei Störungen ausgesetzt. Der Wind bringt die Bäume zum Rauschen und zwingt die Akteure, lauter zu sprechen. Ein Motorrad knattert vorbei und reisst die Zuschauer aus der Versenkung. Das helle Licht des Sommerabends hindert den Regisseur, Beleuchtungseffekte anzuwenden. Die Kulisse steht vor einem gestalteten Raum mit starkem Eigengepräge.
Will sich also das Theater im Freien behaupten, muss es gegen eine feindliche Umgebung aufkommen. Das Bühnenbild muss stärker sein als die Architektur; der Schauspieler interessanter als eine streunende Katze; die Handlung spannender als eine drohende Kumuluswolke. Das bedeutet: Im Freien muss das Theater seine Akzente wesentlich nachdrücklicher setzen als im geschlossenen Raum. Je derber und kräftiger die Aufführung, desto grösser die Wirkung.
Als Freilichtspiel betrachtet, ist die Aufführung der "venezianischen Zwillinge" ein voller Erfolg. Franz Matter hat als Regisseur eine Unzahl von Gängen ersonnen. Er hetzt die Schauspieler von links nach rechts, treppauf, treppab. Damit ist der Zuschauer fortwährend beschäftigt. Er muss die Figuren verfolgen und vergisst dabei, den Blick über Baum, Wiese und Fassade des Museums Robert schweifen zu lassen. Die Betriebsamkeit hindert das Publikum also am Aussteigen, sie fesselt es ans Theater.
Eine ähnliche Funktion hat das überzeichnete Spiel der Darsteller. Es erzwingt die Aufmerksamkeit der Betrachter, denn die Schauspieler zeigen nicht mehr Charaktere, sondern Sensationen in menschlicher Gestalt.
Zu nennen ist vorab Alf Beinell als heuchlerischer Hausfreund. Was er seiner Stimme nicht alles entlockt: Zärtliches Gurren und zorniges Gurgeln, gequältes Krächzen und entrüstetes Poltern. Und was seine Augen alles ausdrücken können: Engelsgleiche Unschuld und brünstige Lüsternheit, verschlagenes Blinzeln und treuherziges Staunen.
Gleich hervorragend: Erwin Leimbacher. Sein Lelio ist ein Grossmaul aus dem Bilderbuch. Herausgeputzt wie ein Pfau, zeigte er die wiegenden Hüften einer Kokotte und den zuckersüssen Mund eines Transvestiten.
Von diesen Karikaturen heben sich Beat Albrechts venezianische Zwillinge klar und massvoll ab. Der eine kommt als tumber Tor daher, mit steifen Schritten und blödem Blick, aber auch mit einem Herzen voll Wärme und Natürlichkeit. Der andere ist ein wirbliger Kerl, voller Witz und Verstand, Schlagfertigkeit und Anmut, einer, der die Welt und ihre Verhältnisse durchschaut.
Neben diesen Routiniers mögen die übrigen Kräfte des Ensembles kaum bestehen. Es fehlt ihnen an Sprechtechnik, Begabung und persönlicher Ausstrahlung. Ihr unausgeglichenes, konturloses Spiel ist gleichsam "im Sauserstadium pasteurisiert".
Als Freilichtspiel betrachtet, sind die "venezianischen Zwillinge" ein derber, aber aromatischer Genuss. Im Stadttheater jedoch, unter "klinisch reinen" Verhältnissen, sind sie eine Spur zu wild und ungezügelt. Denn der Bühnenrahmen wirkt wie eine Lupe. Er macht die Effekte grösser, die Farben greller, die Stimmen lauter. Die Betriebsamkeit, die im Freien dazu dient, die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu fesseln, wirkt hier unnötig und überdreht. Kurz, diese Aufführung der "venezianischen Zwillinge" verträgt den geschlossenen Raum nicht. Als derbes Naturkind gehört sie an die frische Luft.