Eichmann – Wo die Nacht beginnt. Stefano Massini.
Schauspiel.
Roger Vontobel, Joanne Klopp. Bühnen Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. März 2025.
> Eine trockene, strenge, unsentimentale Aufführung. Dem Gegenstand beeindruckend angemessen. Das Stück von Stefano Massini bringt ein fiktives Gespräch zwischen Hannah Arendt und Adolf Eichmann. Die Philosophin berichtete seinerzeit aus Jerusalem über den Prozess gegen den Organisator der Judenmorde durch den NS-Staat. Im Kadermann, der "immer nur seine Pflicht getan hatte", erkannte sie die seither zur Formel gewordene "Banalität des Bösen". Dessen graue Alltäglichkeit – es hätte jeder sein können – wird nun von der strengen, unsentimentalen Aufführung mit der ihr gebührenden Trockenheit untersucht. Ethisch eine bemerkenswerte Stilwahl. Doch von der harten, unbequemen Zuschauertreppe aus betrachtet will es einem scheinen, das Theater hätte hier und dort mehr machen können – in der Dynamik zwischen den Beteiligten und im Ausloten ihres Zusammentreffens. Vermutlich hätte sich dann der Respekt zu Teilnahme gesteigert. <
Die deutschsprachige Erstaufführung von Stefano Massinis "Eichmann – Wo die Nacht beginnt" findet auf einem offenen Platz zwischen Garderobe und Buffet statt. Er trägt den Namen "Tresorraum". Das Berner Schauspiel ist ja seit zwanzig Jahren in der ehemaligen Tresorfabrik Vidmar in Köniz eingemeindet. – Die steilen Holzkuben, auf denen das Publikum jeweils dreissig Minuten vor Spielbeginn Platz zu nehmen pflegt, um den Einführungen zu folgen, sind so verschoben worden, dass sie mit weiteren, zusammengewürfelten Sitzgelegenheiten ein improvisiert anmutendes Rund ergeben. In der Mitte steht ein Hocker, auf dem Eichmann Platz nehmen wird.
Mit der Wahl des Tresorraums hat das Produktionsteam für seine Rundbühne das Problem der Mittelsäule gelöst, das in Vidmar 2, der Spielstätte fürs Kleine und Experimentelle, nicht zu umgehen ist. Gleichzeitig lassen sich im neugeschaffenen intimen Rund die Gravität und Künstlichkeit der Guckkastenbühne vermeiden, die der Begegnung von Hannah Arendt mit Adolf Eichmann den Charakter des Einstudierten beigemischt hätte. Jetzt aber trennen weder Rampe noch Rahmen die Zuschauer von den Protagonisten des fiktiven Gesprächs. Akteure und Publikum befinden sich miteinander in Tuchfühlung.
Der Dialog zwischen der Philosophin und dem Mörder (für den sich das Wort "Schreibtischtäter" herausgebildet hat) hätte sich zwischen April und Dezember 1961 ergeben können. Damals wurde dem ehemaligen SS-Obersturmbannführer vor dem Jerusalemer Bezirksgericht der Prozess gemacht, und Hannah Arendt berichtete über das Verfahren für die US-amerikanische Wochenzeitschrift "The New Yorker". Später erschien die Artikelserie in erweiterter Form als Buch mit dem Titel "Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen".
Hannah Arendt schrieb bereits 1946 in einem Brief an Karl Jaspers von der Notwendigkeit, um des Verstehens willen auf die "Mythen der Schrecklichkeit" zu verzichten. Demzufolge ist Roger Vontobels Inszenierung geprägt von Zurückgenommenheit. Sie entspricht der Technizität, mit der Eichmann, der sogenannte Ingenieur, die Judenvernichtung organisierte. Er gab zu Protokoll, er habe persönlich nie etwas gegen die Juden gehabt. Er habe einfach die Befehle der Vorgesetzten ausgeführt. Jeder andere an seiner Stelle hätte gleich gehandelt. Die Verantwortlichen seien über ihm zu suchen; er selber habe lediglich als kleines Rädchen im Getriebe gedient, loyal, ohne Eigenwillen, wie das der Dienstordnung entspreche.
Die seelenlose, beamtenmässige Trockenheit des Judenmord-Organisators drückt sich in der asketischen Statur von Claudius Körber aus. Das Beunruhigende an seinem Spiel liegt darin, dass es sich mit der Darstellung deckt, die Hannah Arendt von der Person Eichmann gab: "dass er war wie viele und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind". Das Böse bei Eichmann ergab sich aus Realitätsferne und Gedankenlosigkeit, aus eklatantem Mangel an Vorstellungskraft und völliger Unfähigkeit zu selbständigem Urteil.
Dass Schauspieler und Figur auseinanderzuhalten seien, zeigt die Aufführung an der Premiere durch den Verfremdungseffekt mehrerer Hänger. Körber erstarrt mitten im Redefluss und ruft Richtung Souffleurin: "Was sagt er?", "Was sagt Eichmann?" Dann vernimmt das Publikum den Anfang der Passage aus dem Mund einer Unbeteiligten und vergisst nicht, dass der Darsteller einen Text wiedergibt, mit dem er sich als Mensch nicht identifiziert.
Lucia Kotikova als Hannah Arendt zeichnet mit Fassung, Konzentration und Würde die Anstrengung nach zu verstehen, worin die Verantwortung des Schreibtischtäters lag: "Im Gegensatz zu aller kriminellen Schuld übersteigt und zerbricht sie alle Rechtsordnungen". Währenddem zieht in der Ferne Sebastian Lötscher mit seiner Geige vorbei. Die abgerissenen Töne des Instruments werden vom Programmzettel eingeordnet:
Als Grundlage für die Musik diente die Komposition "Brezulinka" Opus 53, drei jiddische Lieder von Viktor Ullmann. Diese entstand 1944 in Theresienstadt, kurz vor der Ermordung Ullmans in Auschwitz.
In der Bühneneinrichtung von Joanne Klopp sitzt Claudius Körber anfänglich auf einem Hocker. Lucia Kotikova senkt durch Betätigung einer Kurbel eine leuchtende, eckige Metallstruktur über ihn. Deren Stäbe erinnern an den Käfig, in dem Eichmann in Jerusalem während der Verhandlungen sass. Verschiedene Lampen und Leuchtröhren evozieren das Verhörlicht und den Wunsch, das Dunkel zu erhellen. Am Ende der Aufführung kommt Hannah Arendt zum Schluss, beim Massenmord an den Juden handle es sich um "ein Verbrechen gegen die Menschheit, verübt am jüdischen Volk".
Wie aber konnte es dazu kommen? Der Cineast Henri Verneuil (mit bürgerlichem Namen: Achod Malakian), Sohn armenischer Eltern, die vor dem Genozid 1923 nach Frankreich geflüchtet waren, erklärte das mit dem "Prinzip der geteilten Verantwortung":
Der Polizist erhält den Befehl, jemanden zu verhaften. Das kommt tagtäglich vor, und er führt nur aus, was zu seinem Beruf gehört. Der Wärter bringt den Verhafteten zum Bahnhof und schliesst ihn im Gefängniswagen ein. Das kommt tagtäglich vor, und er führt nur aus, was zu seinem Beruf gehört. Der Lokomotivführer setzt die Maschine in Gang und fährt mit dem Zug an den Zielbahnhof. Das macht er täglich, und er führt nur aus, was zu seinem Beruf gehört. In Auschwitz errichtet der Metallunternehmer einen Zaun. Er führt nur aus, was zu seinem Beruf gehört. Der Installateur leitet Rohre in ein Gebäude. Das gehört zu seinem Job, und er macht das täglich. – Bei all diesen Männern handelt es sich um anständige, zuverlässige Berufsleute. Sie erfüllen ihre vorgeschriebene Pflicht. Am Ende der Kette braucht die SS nur noch drei, vier Sadisten unter den achtzig Millionen Deutschen zu finden, die bereit sind, den Gashahn aufzudrehen, und schon lassen sich durch das Prinzip der geteilten Verantwortung sechs Millionen Juden sauber umbringen.
Doch der Zwangsläufigkeit der Maschinerie widersprach der KZ-überlebende Psychiater Viktor E. Frankl, Begründer der Logotherapie (Heilung durch Sinn) am 28. Dezember 1946 in einem Vortrag am französisch-österreichischen Hochschultreffen in St. Christoph am Arlberg:
Im Hexenkessel der Kesselschlachten, in den Luftschutzbunkern und in den Konzentrationslagern erfuhr der Mensch die Wahrheit: entscheidend in allem und jedem ist der Mensch. Was aber ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer – entscheidet. Und er entscheidet immer wieder, was er ist und was er im nächsten Augenblick sein wird. In ihm sind die Möglichkeiten zum Engel und zum Teufel. Denn der Mensch, wie wir ihn kennengelernt haben – und wir haben ihn kennengelernt wie vielleicht keine Generation zuvor –, der Mensch ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat; aber er ist zugleich das Wesen, das in diese Gaskammern gegangen ist, aufrecht und mit der Marseillaise oder mit einem Gebet auf den Lippen. Der Mensch ist ein Wesen, das über sich selbst entscheidet.
In diesem Sinn gibt es nur zwei "Rassen" – die Rasse der anständigen Menschen und die Rasse der unanständigen Menschen. Diese Trennung geht quer durch alle Typen. Die biologischen, psychologischen und soziologischen.
Die Frage ist ...
... wie kommt es ...
... zur Unmenschlichkeit?