Krankheit oder moderne Frauen. Elfriede Jelinek.
Schauspiel.
Claudia Bauer. Volkstheater Wien.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 13. März 2025.
> Elfriede Jelineks Stück "Krankheit oder moderne Frauen" nimmt die Zuschauer im Volkstheater Wien mit auf eine intensive, provokative Reise in das Seelenleben und die gesellschaftlichen Strukturen, die Frauen im modernen Kontext prägen. Die Inszenierung beeindruckt durch ihre kompromisslose Auseinandersetzung mit Themen wie Körper, Krankheit, Geschlechterrollen und Machtverhältnissen. <
Unter der Regie von Claudia Bauer gelingt es dem Ensemble, die fragmentierte und gleichzeitig poetische Sprache Jelineks lebendig werden zu lassen. Die Bühne, ein steriles, fast klinisches Setting, unterstreicht die zentrale Thematik des Körpers als Schauplatz gesellschaftlicher und persönlicher Konflikte. Licht und Sounddesign tragen dazu bei, eine Atmosphäre zu schaffen, die gleichermassen einengt und elektrisiert.
Die Darstellerinnen und Darsteller brillieren mit emotionaler Tiefe und Präsenz. Besonders hervorzuheben ist, wie sie die Widersprüchlichkeit und Verletzlichkeit der Figuren greifbar machen. Die Inszenierung fordert das Publikum heraus – sie verlangt Konzentration, Reflexion und die Bereitschaft, Unbequemes zu akzeptieren.
Die Inszenierung des Volkstheaters bietet keine einfachen Antworten, sondern hinterlässt das Publikum mit einem Gefühl der Unruhe – ein Markenzeichen Jelineks. Die Wucht ihrer Sprache und die kluge Regie machen diesen Abend zu einem aussergewöhnlichen Erlebnis, das lange nachhallt.
Soweit die Stimme der KI. Im analogen Leben verstand der Kritiker aus Bümpliz und der Welt die Aufführung nicht und langweilte sich. Für ihn fällt "Krankheit oder moderne Frauen" unter die Rubrik "Nonsens".
Gemeint ist damit folgendes:
Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts – und das heisst: mit dem Beginn der Moderne – teilte sich der Strom der Literatur (und auch des Theaters) in vier Arme. Der mächtigste (heute auf dem Hochplateau der staatlich geförderten deutschsprachigen Kultur beinahe versiegt) trägt die Bezeichnung "traditionell". Bei ihm wird ein kunstreiches Gefälle zwischen Anfang und Schluss gebaut, und zwar, um im Bild zu bleiben, nach den Gesetzen der Hydraulik. Das Vorangehende fliesst "natürlich", beziehungsweise "logisch" ins Spätere. "A la recherche du temps perdu" (Proust) mündet in den "Temps retrouvé". "Die Wasserfälle von Slunj" (Doderer) erzählen die Biographie des Donald Clayton vom Moment an, wo sich seine Eltern erstmals begegnen, bis zu seinem Tod – an den Wasserfällen von Slunj. Auf dem Arm der Tradition bewegen sich die Stücke von Marius von Mayenburg, die Unterhaltungsfilme, die Krimis und die Theaterproduktionen im englischen und französischen Sprachraum.
Der zweite Arm trägt die Bezeichnung "Nonsens" (Nebenbezeichnung "experimentell"). Ihn eröffneten die Dadaisten 1916 im Cabaret Voltaire an der Zürcher Spiegelgasse. Dort attackierten sie die "Sinnhuberei" der "bourgeoisen Kunstreligion" durch Zelebration des Absurden. Währenddem der Erste Weltkrieg 9,7 Millionen Soldatenleben und 10 Millionen zivile Todesopfer forderte, protestierte die Kunst gegen die Logik der Generalstäbe durch prononcierten Unsinn. Zu den Gipfelpunkten des Nonsens gehören Beckets "Not I", Tardieus "La Sonate et les trois messieurs ou Comment parler musique", Ionescos "Stühle" und Saties "Parade".
Der dritte Arm trägt viele Stücke von Brecht, aber auch Frischs "Andorra" oder Weiss' "Gesang vom lusitanischen Popanz". Die Autoren kämpfen für die gute Sache, erfüllen den Auftrag der Gesellschaftsveränderung und betrachten sich dafür als "engagiert", das heisst: in die Pflicht genommen. Im Moment befinden sich dort die Themen "Kolonialismus", "Chancengleichheit" und "Gender".
Der vierte Arm, der schmalste und abgelegenste, gilt als "hermetisch". Auf den ersten Blick wirken seine Sachen unverständlich. Aber man glaubt zu spüren, dass "dahinter" etwas Wichtiges stecke, und vermutet, man werde belohnt, wenn man den Verschluss (oder die Verschlüsselung) aufbekomme. Deswegen haben viele der Werke, die als schwierig gelten, einen hohen Status. Sie verlangen Deutungsintelligenz, und wer die ins Spiel führen kann, darf sich zur Elite zählen. Das erklärt den Nimbus von Kafkas Erzählungen, Celans Gedichten und Eichs "Maulwürfen". Sie wecken das Strahlen der "happy few", welche die Texte verstehen.
Gegenüber dem Nonsens von Elfriede Jelineks "Krankheit oder moderne Frauen" (der als Protest gegen die Gesellschaftsverhältnisse und die Frauenrealität aufgefasst werden kann), greift das Publikum im Volkstheater Wien zu zwei Haltungen:
(1) Es lässt das Unverstandene im Standby-Modus an sich vorbeirauschen, packt dann aber wie Rettungsringe die artistischen Solonummern und bekundet mit Lauten der Wonne, auch Szenenbeifall, seine Erleichterung, endlich etwas Bekanntes ergriffen und begriffen zu haben.
(2) Es begibt sich eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung in die Einführung und/oder entlehnt aus dem Programmzettel einen Schlüssel zum Stück.
Die Frage nach der Qualität ist bei Nonsens tabu. Stellung bezogen wird nach individuellen, argumentativ nicht mehr vermittelbaren "Überzeugungen". Sie prägen nicht nur die Kunstauffassung, sondern auch das Verhalten der Veganer, der Kiffer, der AfD-Wähler, der Klimaskeptiker, der Ukraineunterstützer, der Reichsbürger, der Pazifisten, der Israel- bzw. Palästinafreunde, der Putin-Versteher, der Trump-Anhänger und -Gegner, kurz: der meisten Theaterzuschauer. Das Urteilen auf der Basis von Argumenten ist hier schwierig, ja unmöglich.
Als Ernst Gombrich mit seiner "Geschichte der Kunst" die Gegenwart erreichte, liess er die Arme sinken:
Keine Revolution in der Kunst war erfolgreicher als die, welche vor dem Ersten Weltkrieg begann. Diejenigen von uns, die einige der ersten Verfechter dieser Bewegung kannten und sich an ihren Mut, aber auch an ihre Bitterkeit erinnern, als sie einer feindseligen Presse und einer spöttischen Öffentlichkeit trotzten, können ihren Augen kaum trauen, wenn sie Ausstellungen von einstigen Rebellen sehen, die mit offizieller Unterstützung kuratiert und von ernsten Scharen belagert werden, welche darauf bedacht sind, die neuen Idiome zu lernen und zu übernehmen. Dieses Stück Geschichte habe ich selbst erlebt. Als ich das Kapitel über experimentelle Kunst [in unserem Zusammenhang: Nonsens] konzipierte und schrieb, ging ich davon aus, dass es Aufgabe des Kritikers und Historikers sei, alle künstlerischen Experimente angesichts der feindseligen Kritik zu erklären und zu rechtfertigen. Heute besteht das Problem eher darin, dass sich der Nebel verzogen hat und dass fast alles Experimentelle [in unserem Zusammenhang: fast aller Nonsens] für die Presse und die Öffentlichkeit akzeptabel erscheint. Wenn wir heute einen Helden brauchen, dann ist es der Künstler, der rebellische Gesten vermeidet.
Beim von Claudia Bauer inszenierten Nonsens kann niemand verlässlich angeben, warum "Krankheit oder moderne Frauen" besser ist oder gleich gut oder schlechter als ihre "rechtschaffenen Mörder" in Dresden oder Henri Hüsters "Aus dem Bleistiftgebiet" in Bern. Damit ist es mit der Kritik im klassischen Sinn vorbei, sofern sie mehr sagen will als "wie es ankam" und "wie es sich anfühlte". Um gleichwohl etwas Blendendes vorbringen zu können, muss der Kritiker aus Bümpliz und der Welt nach dem Strohhalm der KI greifen. Wer merkt schon, dass er nicht trägt?
Danke Microsoft!
Eine Reise in das Seelenleben.
Die zentrale Thematik des Körpers.
Ein Schauplatz von Konflikten.