Der Wald. Rolf Liebermann.
Grand Théâtre de Genève.
Basler Zeitung, 10. April 1987.
Später Gesang aus der Sackgasse der Kunst
Rolf Liebermanns Oper "Der Wald" nach dem Stück von Ostrowski wurde im Grand Théâtre de Genève uraufgeführt
Rolf Liebermann, Kommandant der Ehrenlegion, Doktor honoris causa der Universität Bern, Mitglied der Berliner und der Hamburger Akademie sowie der Royal Academy of Fine Arts London, Rolf Liebermann, Komponist, Generaldirektor der Hamburgischen Staatsoper, Rolf Liebermann ist jetzt 76 Jahre alt. Und nun ist "Der Wald", eine "bittere Komödie" nach Alexander Ostrowski, zur Uraufführung gekommen, Liebermanns zweite Oper. Wird sie ihn überdauern? Nimmt das Werk künftige Entwicklungen der Musik voraus, weist es hinüber ins gelobte Land einer neuen Musikästhetik?
Ich bin nicht der Mann, diese Fragen zu beantworten, auch wenn just ihretwegen die Kritiker aus aller Herren Länder nach Genf gezogen sind, um an zwei Schaltern (A-K, L-Z) Schlange zu stehen und um das Vermächtnis, das "opus summum", wenn nicht das "opus ultimum" des greisen Komponisten zu sehen, zu hören und zu wägen.
Die musikalische und ästhetische Relevanz des Werks zu definieren, übersteigt meine Kräfte. Wer von mir Endgültiges verlangt, kann das Blatt beiseite legen. Ich habe keine Antworten. Ich setze mich lediglich ins Theater und schaue. Schaue, wie das Licht ausgeht, wie der Saal verstummt. Während moderne Aufführungen gern mit offener Bühne beginnen, glüht hier ein samtroter gemalter Theatervorhang, mit Goldtroddeln und Stickereien, Stil "dix-neuvième", Stil "Grand Opéra". Der Vorhang gehört offensichtlich schon zur Inszenierung. Er ist das Symbol verstaubter Konventionalität, und er denunziert damit die Oper als Kunstform einer vergangenen Zeit, als Kunstform der perfekten Unnatur. Da erwacht plötzlich in der Stille eine Vogelstimme, die Musik der Natur. Liebermann stellt sie dar als Flötenstimme, und diese Flötenstimme ist ein Zitat. Ein Zitat, übernommen vom fast gleichaltrigen Kompositionskollegen Olivier Messiaen. Eine leise Trauer ist da zu spüren, bei aller Frische und Fröhlichkeit der Vogelstimme. Die Trauer darüber, dass Kunst immer nur auf Umwegen an die Wirklichkeit herankommt. Sie kann das Leben nur zitieren, aber sie kann es nicht schaffen.
Darum hat, so vermute ich, Liebermann den Einsatz der Kunst auch aufs Minimum beschränkt. Sein Orchesterklang ist transparent, bescheiden gleichsam, indem er die Stimmen nie zudeckt. Er emanzipiert sich nie vom Text, sondern begleitet ihn als emotionaler Raum, der Stimmen und Stimmungen stützt, ohne sie zu kommentieren oder gar zu kritisieren. Ein neoklassizistisches Ideal ist da am Walten. Der Komponist will die Lebensvorgänge in der Komödie von Ostrowski zur Evidenz bringen, nicht mehr. Er will verdeutlichen, was sich zwischen den Menschen im "Wald" abspielt, ohne sich als Creator selber einzumischen.
Noch immer ist der Theatervorhang geschlossen, noch immer trällert der Vogel. Doch nun setzt eine zweite Stimme ein, die Stimme einer Frau, die bald auch im Scheinwerferkegel erscheint. Eine stolze Operndiva, hochaufgerichtet mit hohlem Kreuz. Ihren Lippen entströmen perlende Koloraturen. Aber merkwürdig: Indem die menschliche Stimme die Laute der Natur imitiert, versteigt sie sich zu höchster Künstlichkeit; die allerdings bei Liebermann wiederum Zitat ist, ein Rossini-Zitat.
Was will er uns damit sagen, der greise Komponist? Dass die Oper den Bedingungen der abendländischen Tonsprache nicht entrinnen kann, gleichgültig, ob sie mit vergangenem oder mit gegenwärtigem Material arbeitet? Für mich jedenfalls durchzieht Liebermanns letztes Werk ein ganz leises, beinah unhörbares Lamento über die unaufhebbare Lebensferne des Musiktheaters.
"Der Wald" liesse sich demnach verstehen als das Werk eines späten, eines alten Komponisten, der an eine Erneuerung der Kunst, die er kennt und virtuos beherrscht, nicht mehr zu glauben vermag. "Der Wald" als Abgesang auf eine Kultur, die ihre Elemente wohl noch pflegen und verfeinern, nicht aber weiterentwickeln kann.
In der Sackgasse sind für Liebermann auch die Menschen in dieser "bitteren Komödie". Sie haben alle ausgespielt, noch bevor die Oper begann. "La commedia è finita", sagt die Hauptfigur, sie sagt es, und das Orchester schweigt. "La commedia è finita", und auch dieser Satz ist ein Zitat.
Es ist daher nichts als folgerichtig, dass sich Liebermann zu einer Vorlage entschloss, die aus vergangenen Zeiten stammt wie die Form der Oper, zu einer Komödie aus dem vorrevolutionären Russland. Alexander Ostrowski zeigt da Menschen, die nicht mehr weiter wissen; "des hommes", wie die Franzosen sagen, "qui sont au bout du rouleau". Die Komödie (Liebermann nennt sie "bitter") handelt von abgetakelten Provinzschauspielern (in der Oper sind es Sänger), die ihre Ideale verloren haben, und sie handelt von engherzigen Gutsbesitzern, die nie welche hatten.
Bei beiden Gesellschaftsteilen, die die Oper vorführt, ist die Sinnfrage pervertiert. Ziel der Sänger ist es, Erfolg zu finden. Die Gutsbesitzer wollen wohlleben und ihren Reichtum mehren. Selbststilisierung und Materialismus sind die Antworten, die den Menschen einfallen auf die Frage, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Eine Sackgasse.
Kein Ausweg? Keine Hoffnung? Bei Ostrowski gibt es ein Liebespaar: junge, unglücklich schmachtende Leute, die zueinanderstreben und sich am Schluss auch bekommen. Dieses Paar gibt's auch in der Oper. Bloss symbolisiert es nicht (wie etwa bei Gorki, wo die Liebenden stets Aufbruch, neues Leben bedeuten) die verändernde Macht der Gefühle. Sondern es steht da als Zitat der Operntradition, als blasser, konventioneller Abklatsch aller Mimis und Rodolfos. Und Liebermann schreibt ihm nicht mehr strömende Melodien, sondern schmalbrüstig melancholische Klagelaute.
"Der Wald" von Rolf Liebermann, Kommandant der Ehrenlegion, Doktor honoris causa, Mitglied mehrerer Akademien, Staatsoperndirektor "au bout du rouleau" – "der Wald": ein Gesang aus der Sackgasse, das Endprodukt eines alten Komponisten, das ihn vermutlich nicht überleben wird.