Hedda Gabler. Henrik Ibsen.
Schauspiel.
Barbara Weber, Simeon Meier, Mo Sommer. Bühnen Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 28. Februar 2025.
> "Störungen haben Vorrang", empfiehlt Ruth Cohns Themenzentrierte Interaktion (TZI). Also raus: Wer den Anspruch hat, im Theater jeden Konsonanten – und vor allem jedes S! – zu vernehmen, wird vom Berner Schauspiel regelmässig enttäuscht. So auch diesmal. Hinter dem Ausnahmeschauspieler Kilian Land bleiben die andern leider, leider zurück. Damit ist's gesagt. Und jetzt zur Hauptsache: Dem Berner Schauspiel ist eine Spitzenproduktion gelungen. Sie erfüllt alle Ansprüche punkto Intelligenz, Vielschichtigkeit, Substanz und Humor. Schöner, spannender, packender und ergreifender kann man "Hedda" nicht geben. Allen Beteiligten ein Kranz von Weinlaub aufs Haupt! <
Die Kunst der Besetzung. Henrik Ibsen hat sie von der Pieke auf gelernt. Mit 23 Jahren wurde er Theaterdichter und -leiter in Bergen und Christiania (heute Oslo). Als er mit 62 Jahren "Hedda Gabler" verfasste, waren schon zweiundzwanzig Schauspiele aus seiner Feder geflossen. Jetzt beherrschte der Dramatiker die Kunst, eine Handlung dadurch entstehen zu lassen, dass eine Gruppe von Menschen in einer Villa zusammenkam. War die Konstellation genügend energiegeladen, brauchte Ibsen bloss noch dem natürlichen, wenn auch schauerlichen Lauf der Dinge zu folgen. "Realismus" hiess das künstlerische Konzept. Ihm entsprechend kam alles auf die Figuren an:
TESMAN ist ein mittelgrosser Mann von jugendlichem Aussehen, 33 Jahre alt, etwas korpulent, mit einem offenen, runden, vergnügten Gesicht.
HEDDA ist eine Dame von 29 Jahren. Gesicht und Gestalt edel und vornehm. Die Augen sind stahlgrau und haben den Ausdruck einer kalten, klaren Ruhe. Das Haar hat eine schöne mittelbraune Farbe, ist aber nicht sonderlich stark.
THEA ELVSTEDT ist eine zarte Erscheinung mit schönen, weichen Gesichtszügen. Die Augen sind hellblau, gross und rund, treten etwas hervor und haben einen verschüchtert fragenden Ausdruck. Sie ist ein paar Jahre jünger als Hedda.
BRACK ist ein Herr von 45 Jahren; feine Gestalt; elastische Bewegungen. Das Haar kurz geschnitten, noch fast schwarz und sorgfältig frisiert.
Die Kunst der Besetzung. Regisseurin Barbara Weber verteilt die Essenz der Figuren, die sich gleichzeitig als Menschen und dramatische Potenzen auffassen lassen, auf fünf hervorragende Kräfte des Berner Ensembles. Wenn die zarte Erscheinung von Genet Zegay als Thea Elvstedt auftritt, die Augen gross und rund, etwas hervortretend und mit verschüchtert fragendem Ausdruck, möchte man anfangen, an Seelenwanderung zu glauben.
Schon Kilian Land liefert dafür ein mächtiges Argument. Sein Tesman ist, wie von Ibsen umrissen, ein mittelgrosser Mann von jugendlichem Aussehen, 33 Jahre alt, mit einem offenen, runden, vergnügten Gesicht. Er wurde von zwei Tanten zu einem lieben Jungen erzogen. Im praktischen Leben versonnen und unbeholfen, ist er als loyaler Geistesarbeiter fähig, in die Welt fremder Gedanken einzutauchen. Grösse geht ihm ab. Doch wenn er ihr bei anderen begegnet, anerkennt er sie neidlos. Das macht ihn zum rührenden Ausnahmeakademiker. An seiner Wissenschaft über das mittelalterliche Kunsthandwerk in Brabant hängt er mit gleich naiver Liebe wie an seinen alten Tanten und an seinen alten Pantoffeln.
Damit aber ist er ein paar Nummern zu klein für Hedda Gablers Lebensansprüche. Die Aufführung führt sie ein als Schwester von Effi Briest: "Immer am Trapez, immer Tochter der Luft." Kess schwingt Yohanna Schwertfeger an zwei Ringen ins Publikum hinein und verlässt mit ihrem Schwung den Bereich des bürgerlichen Dekors (Bühne Simeon Meier). Angesichts ihrer Energie mahnte Mama Briest: "Nicht so wild, Effi, nicht so leidenschaftlich. Ich beunruhige mich immer, wenn ich dich so sehe ..."
In Frankreich heisst Hedda Gablers Schwester Emma Bovary. Sie ist weich, nicht hart, schmachtend, nicht energisch. Aber gleich wie Effi und Hedda ist auch sie mit einem Mann verheiratet, der nicht zu ihr passt. Tragischerweise sind Herr Doktor Bovary und Herr Doktor Tesman zu echter Liebe fähig. Doch den wilden, starken Frauen sind die angeheirateten Männer zu bescheiden, zu leise. Emma, Hedda und Effi verlangen Glanz, Grösse, Status ... und Romantik. Wird ihr Anspruch nicht erfüllt, gehen sie zugrunde. Sie sind nicht dafür gemacht, sich mit den Rollen von Mutter und treusorgender Gattin zufriedenzugeben. In diesem Zusammenhang stellte der scharfsichtige Nicolás Gómez Dávila fest: "Das Leben realistisch anzugehen, setzt eine gewisse Niedrigkeit der Seele voraus."
Die Kunst der Inszenierung. Ibsen ist darin Meister:
HEDDA geht im Zimmer auf und ab, hebt die Arme empor und ballt die Hände wie in Wut. Dann schlägt sie die Vorhänge vor der Glastür zurück, bleibt stehen und sieht hinaus.
TESMANN: Was siehst du denn da, Hedda?
HEDDA wieder ruhig und sich beherrschend: Ich sehe mir nur das Laub an. Es ist so gelb. Und so welk.
Barbara Weber übernimmt für ihre magistrale Inszenierung Henrik Ibsens Vorgehensweise. Beide, der Dramatiker und die Theaterfrau, verfahren nach dem Grundsatz: "Zuerst die Geste, dann das Wort." Damit ist "Hedda" im Berner Schauspiel dreigeschichtet wie das Original. Das Wort, das man vernimmt, entspricht dem Wölkchen, das aus dem Vulkan aufsteigt. Die Geste, die ihm vorangeht, erfolgt durch ein Grollen und Beben im Innern. Wolke und Beben ihrerseits werden verursacht durch das Aufeinanderstossen tektonischer Platten. Man kann sie nicht sehen, sie liegen zu tief. Doch man wird – wie die Figuren – von ihrer ungeheuren Kraft erschüttert.
TESMAN: Über sowas zu schreiben könnte mir nie einfallen.
HEDDA an der Glastür, trommelt an die Scheiben: Hm –. Nein – nein.
Verursacht wird das Drama, wie immer bei Ibsen, durch den Aussenseiter. Möchte ihn der Autor "schlank, etwas mager", so tritt Löwborg bei André Willmund nicht mit einem "eleganten schwarzen Abendanzug, dunklen Handschuhen und einem Zylinder in der Hand" auf, sondern als gedrungener Brocken in dunklem Pullover. In ihm zeigt sich gleichzeitig das Heruntergekommene und die Wucht.
TESMAN: Ja willst du dich denn nicht als mein Konkurrent bewerben?
LÖWBORG: Nein. Ich will nur über dich siegen. In der Meinung der Öffentlichkeit.
HEDDA sieht Tesman mit kaltem Lächeln an: Ich finde, du siehst aus wie vom Blitz getroffen.
Nach dem Aussenseiter kommt, wie immer bei Ibsen, der Bösewicht. Zynischerweise ist er Gerichtsassessor – in Bern Gerichtsrätin. Die Zumutung, sich ihrem Werben hinzugeben, weckt durch die lesbische Komponente bei Hedda und den meisten Zuschauern jenen Abscheu, den das 19. Jahrhundert empfand, wenn ein "Hausfreund" die Grenzen des Anstands überschritt. Isabelle Menke trifft die Figur mit der gebotenen Dämonie: Von feiner Gestalt; elastischen Bewegungen. Das Haar sorgfältig frisiert. Walther Killy nannte ihre Erscheinung: "Abgewandelte Wiederkehr des Gleichen".
Das feine psychologische Kammerspiel entspannt sich in einem Rahmen, der es als künstliches – und künstlerisches – Arrangement kennzeichnet. Die Aufführung wird von zwei musikalischen Quellen begleitet: einer aus dem Off, einer aus dem Schlagwerk, das die Darsteller live betätigen (Musik Mo Sommer). Damit liegt "Hedda" auf der Linie des Münchner "Pygmalion". Der persische Regisseur Amir Reza Koohestani erklärte:
Heute ist Realismus auf der Bühne dem Spiel von Kindern verwandt – man verabredet eine Wirklichkeit mit festen Regeln. Je genauer man diese Verabredung einhält, desto verführerischer ist es, sie in der nächsten Szene zu brechen, so wie Kinder eine Sandburg zerstören, die sie gebaut haben. Wenn die Realität etabliert ist, kann ich beginnen, mit ihr zu spielen und das Wesentliche der Situation herauszuarbeiten.
Auf diese Weise entsteht eine spannende Zweipoligkeit von Inhalt und Form, wie sie sich Ibsen noch gar nicht vorstellen konnte. Unseren Augen aber erscheint sie als Fortschritt, und wir verdanken ihm eine "Hedda", die sich schöner, packender, ergreifender nicht denken lässt.
Das unglückliche Paar.
Das dunkle Vehängnis.
Das vernichtete Genie.