Theater in Wien.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. Februar 2025.
*** Nachtland. Marius von Mayenburg.
Schauspiel.
Ramin Gray. Theater in der Josefstadt, Wien.
> Von Anfang an ist Zug in der Sache. Marius von Mayenburgs "Nachtland" spielt im Haus eines Verstorbenen. Die Erben, ein Geschwisterpaar mit den jeweiligen Partnern, haben sich zum Räumen der Hinterlassenschaft zusammengefunden. Bis zum Ende der anderthalbstündigen Aufführung hört es nicht auf zu knistern. Dass die Spannung hält, liegt am vorzüglichen Stück, dessen Wendungen eines Lessing würdig sind, und es liegt am erstklassigen Ensemble, das die Personen mit souveräner Beiläufigkeit rasch und leicht zur Darstellung bringt. Rundum Natürlichkeit, Stimmigkeit, Eleganz. Und das bei einem Schauspiel, auf welches Goethes Formulierung "diese sehr ernsten Scherze" zutrifft. <
Gleich wie ein Streichquintett mit einem Akkord den Anfang markiert, bringt Regisseur Ramin Gray die fünf Darsteller durch einen geschwinden Dreh auf die Bühne. Das ergibt einen echten Auftritt der Erben (Bruder und Schwester) mit ihren jeweiligen Partnern. Die fünfte Person aber, eine Frau mit langen, blonden Haaren, gleitet ungesehen durch die Gruppe und taucht erst am Ende wieder auf, um dem Stück eine neue Variante der schlimmstmöglichen Wendung zu geben.
Marius von Mayenburgs "Nachtland" ist sozusagen der bundesdeutsche Zwillingsort von Güllen. Wie beim "Besuch der alten Dame" geht es um Korruption der Überzeugungen durch sehr viel Geld. Menschen wie du und ich, die sich für politisch korrekt anschauten, setzen unversehens ihre ganze Energie ein, um für die Eltern und Grosseltern den "Arier"-, das heisst im konkreten Fall: den Nazi-Nachweis zu erbringen. Denn wenn die Altvorderen in der braunen Suppe schwammen, stammt das auf dem Estrich gefundene Gemälde "Ruprechtskirche im ersten Bezirk" zweifelsfrei von Adolf Hitler. Und durch diese Provenienz steigt der Preis ums Hundertfache.
Parallel zur Frage nach der Provenienz des Bildes bringen die flüssigen Dialoge auch die der Provenienz der unauffälligen Menschen ans Licht, welche heute in Deutschland (das heisst: in "Nachtland") leben und wählen.
Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht ...
(Heinrich Heine)
Das Aufdecken – Kerngeschäft der Komödie – erhält durch die straff gebaute Handlung gleichzeitig akrobatischen und diabolischen Charakter. Das Knistern klingt nach Elektrizität und riecht nach Schwefel. So halten sich moralische Abstossung und ästhetische Anziehung die Waage, und Marius von Mayenburg vollzieht Äquilibristik von höchstem Rang.
Der braune Sumpf, aus dem das belastende, das Hitler-Gemälde jedoch adelnde Beweismaterial als Licht gezogen wird, besteht aus "verfaultem" Zwetschgenmus, welches in der "Abfall"-wanne "entsorgt" wurde, nun aber "wieder" hervorkommt und "alles beschmiert". (Ich setze die Wörter in Anführungszeichen, um auf ihre Doppeldeutigkeit hinzuweisen.) Die mittelalterliche Schwager, sarkastischerweise "Fabian" genannt, streckt triumphierend ein paar wiedergefundene Briefblätter in die Luft und ruft: "Heil Hitler!" Doch beim Lösen der "Glasscheibe" vom "Rahmen" hat sich Fabian am Daumen "verletzt" und geht an der "Ansteckung" "zugrund", die er sich durch "Starrkrampf-Bazillen" zuzog. So wunderbar ist das Stück: leicht, konzis und doppelbödig spielt es mit dem Entsetzen, bis im Saal jedem Selbstgerechten die Haare zu Berge steigen.
Dazu passt, dass die Inszenierung vom 61-jährigen Ramin Gray besorgt wurde, einem Theaterdirektor mit iranischem (muslimischem) und britischem (jüdischem) Erbe. Er spricht Englisch, Persisch, Französisch und Deutsch. – Als Roland Donzé an der Universität Bern noch Philologie unterrichtete, sagte er: "Ich merke immer, wenn eine Arbeit von einem Juden geschrieben wurde. Woran? An der besonderen Fluidität. Das Denken der durchschnittlichen Studenten hat etwas Schematisches. Die Juden aber, die können mit den Gedanken spielen." Diese besondere jüdische Fluidität findet sich nun – wen wundert's? – in der Inszenierung von "Nachtland" an den Kammerspielen der Josefstadt. Ja, Nathan. Im Osten ... drei Söhne ... alle gleich zu lieben ... der Vater ... sich nicht entbrechen konnte ...
TOTO oder Vielen Dank für das Leben. Sibylle Berg. (UA)
Schauspiel nach dem gleichnamigen Roman.
Beni Brachtel, Ersan Mondtag. Burgtheater Wien.
> Einen Monat nach den Nationalratswahlen, an denen die sog. Freiheitliche Partei Österreichs FPÖ unter ihrem Obmann Herbert Kickl die meisten Stimmen erhielt, brachte das Burgtheater Wien unter seinem neuen Intendanten, dem Schweizer Stefan Bachmann, als sog. Brandmauer gegen rechts die Schauspielfassung von Sybille Bergs Roman "Vielen Dank für das Leben" unter Regie und Bühnenbild von Ersan Mondtag zur Uraufführung. Seitdem ist der Besuch von "TOTO" (und erst recht das Applausverhalten des Publikums) eine Gesinnungsdemonstration. "Aushalten!" ist die Parole. Langeweile gilt es zu unterdrücken. Und: "Die Aufführung gut finden!" Sonst gehört man nicht zur rechten, d.h. linken Familie, und die Welt wird noch schlimmer. <
Vom Zuschauerraum aus geht der Blick auf ein Karussell namens Drehbühne. Ohne Hast bewegt es sich im Gegenuhrzeigersinn drei Stunden lang im Stop-and-go-Modus. Ab und zu kreuzen Personen mit vierrädrigen Elektrofahrzeugen auf und sprechen entweder Dialoge zueinander oder narrative Passagen zum Publikum, um ihm die Orientierung in Zeit und Ort zu ermöglichen. Veränderungen des Lichts und der Neonbuchstaben, die mal KLINIK, mal KINK anzeigen, schaffen Abwechslung. Daneben gibt es Wind-, Gewitter-, Strassen- und Vogelgeräusche sowie die Töne einer Partitur für symphonisch besetztes Live-Orchester, verfasst und dirigiert von Beni Brachtel. So viel zur Inszenierung von Ersan Mondtag.
Für die Bühne des Burgtheaters hat Sibylle Berg ihren Roman "Vielen Dank für das Leben" umgeschrieben. Unter dem Titel "TOTO" erzählt sie den Lebenslauf eines Menschen von der Geburt bis zum Tod. 1966 kommt Toto in der DDR zur Welt. Um 2010 stirbt er/sie/es in der BRD. Zu seinem/ihrem Unglück ist er/sie/es geschlechtslose Waise. Behördlich wird Toto zum Mann erklärt, später operativ zur Frau umgewandelt. Das ergibt einen Durchlauf durch die neuere Zeitgeschichte am Faden von Gender, Unterdrückung durch den Staat und seine Institutionen, Gewalt durch Gruppen und einzelne, Globalisierung und Gentrifizierung durch den Kapitalismus. Klappentext: "Toto wandelt durch die DDR, als ob es alles noch gäbe: Güte, Unschuld, Liebe. Warum, fragt er sich, machen die Menschen dieses Leben noch schrecklicher, als es schon ist? Toto geht in den Westen, wo der Kapitalismus zerstört, was der Sozialismus verrotten liess."
Im Zentrum steht das Opfer: Grundgütig, aber beschränkt. Arbeitswillig, aber ausgenützt. Liebesbedürftig, aber einsam. Toto ist ein Nachfahre des legendären Leipziger Barbiergehilfen: "Woyzeck ist der Mensch, auf dem alle rumtrampeln" (Alfred Kerr). Mit "TOTO" leistet die Bühne des Burgtheaters im Sinn der EU-Abgeordneten Sibylle Berg ihren Beitrag, um "Armut und Diskriminierung zu bekämpfen. Und ihre Vision eines neuen Gesellschaftssystems nach der friedlichen Abschaffung des Kapitalismus zu erläutern." Puäh. Gut gemeint ist das Gegenteil von Kunst. Aber der Zweck heiligt die Mittel. Fazit: Langeweile gilt es zu unterdrücken und beim Applaudieren zu jubeln. Sonst gehört man nicht zur rechten, d.h. linken Familie, und die Welt wird noch schlimmer.
** Der Alpenkönig und der Menschenfeind. Ferdinand Raimund.
Romantisch-komisches Original-Zauberspiel.
Josef E.Köpplinger, Walter Vogelweider. Theater in der Josefstadt, Wien.
> Vor 197 Jahren, genau: am 17. Oktober 1828, kam "Der Alpenkönig und der Menschenfeind" im Leopoldstädter Theater Wien zur Uraufführung. Ferdinand Raimund, der Direktor des Hauses und zugleich Autor des Stücks, spielte die Hauptrolle: Herr von Rappelkopf, ein reicher Gutsbesitzer (und daneben ein aufbrausender Menschenfeind). Während heute im Josefstädter Theater das Vorspiel der 197-jährigen Originalmusik von Wenzel Müller erklingt, erscheint auf dem 101 Jahre alten Vorhang die Projektion von Raimunds Stückbezeichnung: "Romantisch-komisches Original-Zauberspiel". Mit diesem Auftakt umschreibt Josef E. Köpplinger seinen Regieansatz: Respektvoll und möglichst nah am Stück. Und siehe da: Trotz weitgehendem Verzicht auf Aktualisierung geht uns das Original-Zauberspiel unter die Haut. <
Die Komödie handelt von Heilung durch Selbsterkenntnis – hundert Jahre vor Freud. Herr von Rappelkopf leidet an Verfolgungswahn. Er glaubt, alle Welt wolle ihn um sein Kostbarstes bestehlen: erstens um sein Kapital, das er unvorsichtigerweise einem italienischen Bankhaus anvertraut hat (= Klumpenrisiko), und zweitens um seine geliebte Tochter, die sich einem jungen Maler (= Hungerleider) in die Arme geworfen hat. Die Verlustangst weckt Misstrauen. Das Misstrauen mobilisiert Aggression. Und die Aggression wendet sich gegen die Menschen der Umgebung.
Die Heilung geschieht durch Zauberei. Der Alpenkönig versetzt Rappelkopf in den Körper eines nahen Verwandten und übernimmt selber die Rolle des Menschenfeinds. Nun sieht sich der Patient von aussen; er erkennt, wie sein Verhalten auf die andern wirkt; er vernimmt, was sie in seiner Abwesenheit über ihn sagen. Die Erkenntnis:
Ich bin ja ein rasender Mensch. Ich fang mir ordentlich an selbst zuwider zu werden. Das hätt ich in meinem Leben nicht gedacht.
"Spiegelung" nennt die Psychologie die Methode, die Rappelkopf heilt. Und als Spiegel legt Walter Vogelweider das Bühnenbild an. Immer wieder wirft es die Ansicht des Zuschauerraums von der Bühne zurück in den Saal und sagt: "Tua res agitur." Das alte Stück handelt von dir. Schau dich nur selber an! Auf diese Weise versetzt "Der Alpenkönig" nicht nur Rappelkopf in Bewegung, sondern auch den Zuschauer. In der Enge des Weltverständnisses, in der Voreingenommenheit, in der Wut, in der Selbstgerechtigkeit, in der Heftigkeit der Gebärden erkennt er seine schlechten Seiten wieder.
Die Hauptfiguren sind hervorragend. In Michael Dangls Interpretation hat der Menschenfeind eine rührend kindliche Ausstrahlung. Man kann ihm nicht böse sein, weil er selber nicht böse ist, sondern nur naiv (was ihn einem trotzigen Kind gleichsetzt). "Blind" ist das Wort, das dafür im Stück fällt. Der Wüterich soll aber sehend werden. Deshalb ist, wie in der "Zauberflöte", Erkenntnis das Ziel des romantisch-komischen Original-Zauberspiels.
Als Alpenkönig zeichnet Günter Franzmeier das Verhalten Rappelkopfs mit geschärftem Profil. In seinem Spiegel bekommt die Deutlichkeit der Einzelzüge einen gespenstischen Einschlag, wie es dem Monarchen der Geisterwelt ansteht.
Glaubwürdig, stark und aus einem Guss sind die Ehefrau (Sophie Krismer) und die Tochter (Johanna Mahaffy). Die 26 weiteren Rollen sind teils im Gesang, teils in der Aussprache, teils im Umriss nicht immer deutlich getroffen. Gütesiegel ist die beinah ausgestorbene Kunst des Beiseite-Sprechens; der Hauptrollenträger Michael Dangl beherrscht sie. Das ist mehr als die halbe Miete.
Schlussgesang
Erkenntnis, du lieblich erstrahlender Stern,
Dich suchet nicht jeder, dich wünscht mancher fern.
Zum Beispiel die Leute, die uns oft betrügn,
Die wolln nicht erkannt sein, sonst würden s' nicht lügn.
Ja, lieber Ferdinand, die zeitgeschichtlichen Verhältnisse wollen's, dass uns dein romantisch-komisches Original-Zauberspiel trotz weitgehendem Verzicht auf Aktualisierung immer noch unter die Haut geht.
*** Die Schachnovelle. Stefan Zweig.
Schauspiel nach der gleichnamigen Novelle.
Nils Strunk, Lukas Schrenk. Burgtheater Wien.
> Wann hat es das schon gegeben? Am Ende der Aufführung ruft das riesige, vollbesetzte Haus wie aus einer Kehle bravo, und unterm Klatschen erhebt sich Reihe um Reihe, Rang um Rang bis hinauf zur Galerie. Einzelne können nicht mitjubeln. Sie haben eine zugeschnürte Kehle. Das letzte Werk von Stefan Zweig hat sie mitgenommen. Einen Tag, nachdem der Autor im südamerikanischen Exil das Typoskript der "Schachnovelle" zur Post gebracht hatte, beging er mit seiner Frau Lotte Selbstmord. Auf diesen Endpunkt hin bewegt sich auch Nils Strunks magistrale Aufführung. Die Produktion hätte es verdient, ans Theatertreffen eingeladen zu werden. Jetzt aber müssen die Berliner nach Wien fahren. Acht Stunden mit der deutschen Bahn. Einmal umsteigen. Aber was will man? Das Spitzenwerk des Theatertreffens läuft nun mal am Burgtheater. <
Keinen anderen Titel bekommen die Deutschlehrer und Experten an der mündlichen Maturprüfung häufiger nacherzählt als Stefan Zweigs "Schachnovelle". Bei Schülern, die nicht gerne lesen, ist das Werk beliebt: kurz und billig, dazu spannend und leicht verständlich. Vielleicht hat es auch Nils Strunk am Gymnasium kennengelernt. Jedenfalls führt er als Vorlage für seine Produktion am Wiener Burgtheater die 80-seitige Reclam-Ausgabe an.
Die Ambitionierteren wählen andere, umfangreichere Prüfungstexte: "Der Vorzugsschüler versteht es, dem Professor die Neigungen abzugucken", erklärt Alfred Polgar und fährt fort:
Aber wenn wir auch den Vorzugsschüler nie recht leiden mochten, wir konnten doch nicht sagen, dass er seine Position nicht verdient hätte. Er war ja wirklich fleissig, sittlich, musterhaft, war immer wohlpräpariert und hatte immer ein Löschblatt in seinen reinlichen Heften. Er erreichte stets als Erster "das Ziel der Klasse" und zog als sieghaftes Vorbild durch den feindlichen Irrgarten der Schule, worauf er sich dann, im Leben, ziemlich spurlos verlor, bis man ihn, Jahre später, als tyrannischen Beamten oder sowas wiedertraf.
Nun aber füllt das Werk für die schwachen Schüler das Haus am Ring und bringt die Besucher zum Jubeln. Dabei handelt "Die Schachnovelle" von nichts anderem als von Leid, Gewalt und Untergepflügtwerden durch die Starken, entsprechend dem Brettspiel mit seiner gnadenlosen Trennung in Weiss und Schwarz. Die Virtuosität, mit der die Vorlage nun auf die Bühne kommt, bildet den hellen Rahmen für einen dunklen Kontrapunkt: Verfolgung der Kommunisten, Kirchen, Klöster, Juden und Demokraten durch die Nazis.
Die Vorstellung beginnt mit dem Ablegen eines Südamerikadampfers. Der Erzähler und die dreiköpfige Bordkapelle sind als Matrosen kostümiert. Nils Strunk spinnt den Faden locker an. Er spielt einen Besucher, der einen Passagier begleitet. Einmal auf dem Schiff, lernt der Fahrgast weitere Passagiere kennen. Gemäss dem Babuschka-Prinzip kommt hinter jeder Figur eine neue zum Vorschein. Nils Strunk spielt sie alle.
Das Verwandlungsgenie steht dauernd auf der Bühne – fast zwei Stunden – und nimmt eine solche Vielfalt von Gebärden, Haltungen und Gesichtszügen an, dass das Publikum von ihm gleichermassen mitgenommen wird, wie wenn es einer figurenreichen Shakespeare-Tragödie beiwohnte. In der Aufführung wird die Musik selbst zur Sprache (Komposition Nils Strunk, Songtexte und Co-Regie Lukas Schrenk). Die weissen und schwarzen Tasten des Klaviers geben jene fatale Schachpartie wieder, aus welcher das einstmalige Leid und Grauen der Nazizeit wieder emporsteigen. Dann führt das entfesselte Schlagzeug zum Zusammenbruch des Dr. B.
Wer meinte, "Die Schachnovelle" vom Gymnasium her zu kennen, verlässt das Burgtheater mit weichen Knien. Die Aufführung überragt sein schülerhaftes Vorstellungsvermögen, und er bekommt von ihr das Werk noch einmal geschenkt. Unauslöschlich.
South Pacific. Richard Rogers, Oscar Hammerstein.
Musical.
Bühne Baden.
> Baden bei Wien: Bekannt durch sein Casino. Seine Weine. Seine Biedermeierarchitektur. Dazu UNESCO-Weltkulturerbe als "bedeutende Kurstadt Europas". Das neue Stadttheater wird 1909 in Anwesenheit von Erzherzog Rainer zum 60. Thronjubiläum von Kaiser Franz Josef I. eröffnet. Das glanzvolle Jugendstilhaus hat 816 Plätze. Gegenwärtig läuft dort Rodgers' und Hammersteins Musical "South Pacific". 13 Vorstellungen sind angesetzt. Sie generieren den Besuch von 10'608 Zuschauern. Eine staunenswerte Leistung: Baden hat nämlich nur 25'923 Einwohner. <
Die Provinzaufführung ist manchmal anständig, manchmal ungenügend, aber nie wirklich gut. Respekt jedoch zwingt die Tatsache ab, dass sie überhaupt stattfindet. Es ist an sich schon eine Leistung, einer Kleinstadt von 25'923 Einwohnern das ganze Jahr hindurch lebendige Kunst anzubieten und dafür eine Hundertschaft von Menschen zu beschäftigen, die zu Zeiten, wo andere die Freizeit geniessen, ihren Einsatz erbringen – auf der Bühne, in der Technik, in den Pausenräumen, in der Kasse und am Buffet.
Für Oper, Operette, Musical und Ballett beschäftigt die Bühne Baden ein Orchester von 25 Mitgliedern, einen Chor von 16 Sängern und ein Ballett von 11 Tänzern. Sie machen die Kurstadt zur Kulturstadt. Das Theater aber wird am Leben gehalten durch den Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen und "es" (das Werk, die Kunst) den Leuten zu zeigen. Wenn auch drüben in Wien, in halbstündiger Zugsdistanz, alles viel perfekter abläuft (die Orchester ungleich präziser spielen, die Künstler ungleich mehr Begabung zeigen) – der Einsatz der Thespiskinder mobilisiert die Kultursolidarität des Kritikers, und mit Überzeugung erklärt er: Lieber "South Pacific" als nichts!
In die Kulturgeschichte ist das Musical längst eingegangen. 1949 plädierte das Libretto von Oscar Hammerstein zum Abscheu der amerikanischen Südstaaten für gemischtrassige Liebesverhältnisse. Die schlimme woke Botschaft hinderte nicht, dass Richard Rogers als erster Komponist die vier amerikanischen Spitzenauszeichnungen für Theater, Film, Schallplatte und Fernsehen errang: Emmy, Grammy, Oscar und Tony, zusammengenommen EGOT.
Rogers war ein Geschwindschreiber. Der Sage nach entstand das Lied "Happy Talk" innert zwanzig Minuten, und "Bali Ha'i" am Kaffeetisch des Regisseurs innert zehn Minuten. Trotzdem ist die Musik gut. Sie hat Hit- und Ohrwurmqualität.
Dass das Musical einen antirassistischen und antikolonialistischen Kurs verfolgt, ist kein Zufall. Es entsteht nämlich ein Jahrzehnt nach dem "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" (Blutschutzgesetz). Der Komponist und der Librettist aber stammen aus jüdischen Familien. Sie haben Angehörige im KZ verloren ...
Im Schatten von "South Pacific" (10 Tony Awards, Pulitzer Prize for Drama) liegt das vergessene "Veilchen von Montmartre", uraufgeführt 1930 im Wiener Johann Strauss-Theater. Emmerich Kálmán, der Komponist, geboren als Imre Koppstein: Jude. Acht Jahre nach der Uraufführung in der Emigration. Die Librettisten Julius Brammer und Alfred Grünwald: Juden. Acht Jahre nach der Uraufführung in der Emigration. Der Kapellmeister Josef Holzer: Jude. Acht Jahre nach der Uraufführung in der Emigration. Der Regisseur Paul Guttmann: Jude. Acht Jahre nach der Uraufführung in der Emigration. Der Kritiker für die Wiener Zeitung "Der Tag", Fred Heller: Jude. Acht Jahre nach der Uraufführung in der Emigration.
Das ist die Konsequenz der antisemitischen Hetze: "Neun Zehntel alles literarischen Schmutzes, künstlerischen Kitsches und theatralischen Blödsinns gehen auf das Schuldkonto der Juden." (Adolf Hitler: Mein Kampf.) Und da stehen wir nun. Mit leeren Händen. Die Auslöschung des jüdischen Kulturelements hat sich nicht wiedergutmachen lassen.
Während aber in Alteuropa die Operette und die Juden erloschen, begann auf der anderen Seite des Atlantiks der Stern des Musicals aufzugehen, und aus der Hand von Juden wie Richard Rogers und Oscar Hammerstein entstand "South Pacific". Gegenwärtig läuft der Titel bei der Bühne Baden in 13 Vorstellungen vor 10'608 Zuschauern. Hut ab.
*** Holzfällen. Thomas Bernhard.
Musikalische Rezitation.
Nicholas Ofczarek, Musikbanda Franui. Burgtheater Wien.
> Die Erscheinung von Thomas Bernhards "Holzfällen" am 24. August 1984 erregte einen Skandal. In Österreich wurde das Buch – zu recht – als Schlüsselroman gelesen und beschlagnahmt. Der Suhrkamp Verlag zahlte 55'000 DM für eine aussergerichtliche Einigung mit den Klägern. Heute ist der Roman ein Klassiker. Sein Vortrag durch den Schauspieler Nicholas Ofczarek und die Musikbanda Franui führt zu ausverkauften Sälen im Burgtheater Wien, den Salzkammergut Festwochen Gmunden, dem Schauspiel Stuttgart, dem Schauspielhaus Bochum, dem Berliner Ensemble, dem Musiktheater Linz und den Tiroler Festspielen Erl. Ja, so geht's. "Immer dachte ich: Nur kein Skandal! Dabei weiss ich heute, dass ein handfester Skandal, gepaart mit Können, der Karriere hilft." (Vilmos Désy, seinerzeit Direktor des Privattheaters beim Auersperg, Wien.) <
Für das in Frankreich ausgesprochen beliebte Format "seul en scène" wählen Nicholas Ofczarek und die Musikbanda Franui einen ungewohnten, ja im Grund schon widerständigen Ansatz. Üblicherweise bewegt sich der Schauspieler. Er misst die Bühne in allen Dimensionen aus. Seine Gänge und Stellungen strukturieren den Vortrag. Und durch den Wechsel von Requisiten und Kostümen schafft er die Verwandlung von Figuren und Szenen.
Nicht so bei "Holzfällen". Während der ganzen Vorstellung sitzt der Rezitator fest auf einem Hocker. Vor ihm steht ein Notenständer. Eine dicke Brille bedeckt die Augen. Die Hände kommen nur in Bewegung, um mit einer Wasserflasche die Sprechwerkzeuge zu befeuchten, nicht aber, um dem Gesagten Ausdruck zu geben. Das Kommentieren bleibt der Musikbanda Franui überlassen.
Ihre zehn Mitglieder, auf der Vorderbühne um Ofczarek grupiert, spielen eine Collage mit Motiven von Paul Abraham, Béla Bartók, Johannes Brahms, Anton Bruckner, John Cage, Franz Lehar, Henry Purcell, Robert Schumann, Anton Webern und andern. Die bläserlastige Spielweise evoziert den Klang von Dorfkapellen und schafft damit eine Verbindung zur ländlichen Umgebung, wo das Holz zu Fall kommt, wie der Titel des Romans angibt. So wird in grossen Bögen gedacht.
Das Publikum bemerkt die weitausgreifende Konstruktion an der Zunahme der Intensität. Bis zur Pause wartet Thomas Bernhards Erzählfigur in einem Ohrensessel auf den Eintritt eines Burgschauspielers zu einem "künstlerischen Nachtessen" des Ehepaars Auersberger in der Gentzgasse. Den Bewusstseinsstrom des reflektierenden und kommentierenden Schriftstellers spiegelt die rhythmisch bewegte Prosa mit ihren refrainartigen Wiederholungen und absolutistischen Partikeln "nie" und "immer" (nie gemocht/immer gehasst).
Nach der Pause kommt es zur Schilderung des Nachtmahls: Von der Erdäpfelsuppe über den Fogosch bis zum Kaffee; schliesslich zur Verabschiedung der Gäste und dem Gang des Erzählers durch die leere Stadt. Währenddem sitzt Nicholas Ofczarek weiterhin unbeweglich auf seinem Hocker. Aber in den Ausdruck seiner Stimme haben sich die Figuren gemischt, und dabei sind die Sphären verschmolzen: Die paar Stunden der halbfiktiven Abendgesellschaft, die zeitentbundene Prosa der Figurenrede, die Epochen der zitierten musikalischen Motive und die Gegenwart der ausführenden Künstler im Raum des Burgtheaters mit der Gegenwart des Publikums.
Auf diese Weise wird die Aufführung – gerade durch ihre widerständige Mehrschichtigkeit – zur prägenden Erfahrung im Sinne Bernhards:
Wenn wir unser Ziel erreichen wollen
müssen wir immer in die entgegengesetzte Richtung
Immer grössere Einsamkeit
immer grösseres Unverständnis
immer grösseres Missverständnis
immer tiefere Ablehnung
Aber wir gehen diesen Weg
keinen andern
diesen einzigen Weg
bis wir tot sind
Über "Holzfällen" berichtete die Tochter des Wirtepaars Hawelka letzten Sommer dem Journalisten Andreas Bernard:
"Unter der Uhr, vis-à-vis von der Tür, ist immer ein sehr intelligenter Mann von der Staatsoper gesessen, ein musikalisches Genie praktisch, der aber mit einer reichen Frau verheiratet war und deshalb nicht mehr so viel gemacht hat." Herta Hawelka spricht von Gerhard und Maja Lampersberg, den Vorbildern des Ehepaars Auersberger in Thomas Bernhards 1984 erschienenem Skandalbuch "Holzfällen". "Der Bernhard, der ist da auch mit dabei gewesen. Damals war er noch gar nichts, ein armer Schlucker. Er wurde von dem Ehepaar immer eingeladen bei uns im Café und auch in den Urlaub, nach Kärnten. Die Frau hat da ein grosses Landgut gehabt. Viele, viele Jahre später kam dann das Buch heraus."
Herta Hawelka hat sich jetzt erhoben und geht vor zu dem Tisch unter der grossen Uhr an den Ort des Geschehens. "Der Bernhard war ja immer sehr negativ. Ich blättere in dem Buch, und dann sage ich zu meiner Mutter: Mama, schau mal, das musst du lesen, das sind doch unsere alten Gäste. Na, mehr hat sie nicht gebraucht. 'So was', hat meine Mutter am nächsten Tag gesagt, 'da lässt er sich einladen, die zahlen alles, und dann schreibt er so böse über diese Leut'.' Sie hat sich so aufgeregt. Mir hat es fast leidgetan, dass ich ihr das Buch geliehen habe." Gerhard und Maja Lampersberg sind damals gegen "Holzfällen" vor Gericht gezogen. Die aktuelle Auflage musste aus den Buchhandlungen entfernt werden. Später zog das Ehepaar die Klage gegen eine Schadenersatzzahlung zurück.
Heute ist "Holzfällen" ein Klassiker. Er bringt volle Säle in Wien, Stuttgart, Bochum, Berlin, Linz, Gmunden und Erl. Vilmos Désy hatte recht: "Ein handfester Skandal, gepaart mit Können, hilft der Karriere."
Azur oder die Farbe des Wassers. Lisa Wentz. (UA)
Schauspiel.
David Bösch, Patrick Bannwart. Theater in der Josefstadt, Wien.
> Die Uraufführung in der Wiener Josefstadt bringt ein dreifaches Déjà-vu: Déjà-vu bei der Handlung, Déjà-vu beim Bühnenbild und Déjà-vu bei der Regie. Die drei Déjà-vus machen das zweite Stück von Lisa Wentz, der dreissigjährigen österreichischen Dramatikerin aus dem Tirol, zur Enttäuschung. <
Die Handlung führt tief aufs Land, wo es am verhocktesten und am katholischsten ist. Auf dem abgelegenen Bauernhof von "Azur" wird vor jeder Mahlzeit gebetet; der Segen lateinisch gesprochen. Doch im übrigen lastet am Tisch das Schweigen. Die Menschen sind wortkarg. Sie unterdrücken ihr Inneres.
Bei den Jungen führt das zu Spannungen. Sie ducken sich zwar noch vor der elterlichen Autorität, bekunden aber ihr Aufbegehren durch Flucht in andere Welten: Die Tochter zur Musik von Madonna aus dem Kassettenrekorder, der Sohn zum Malen von Bildern in Azurblau.
Azur ist die Farbe, die er nie verwendet hat, wenn er im Internat mit einer vom frommen Vater geschenkten Palette den Geistlichen malen musste. (Der leibliche Vater ist tot; sein Bild hängt in der Küche an der Wand.) Damit ist Azur nicht nur die Farbe des Himmels und des Wassers, sondern auch die Farbe der Reinheit.
Um dem Schweigen Gewicht zu geben, greift Regisseur David Bösch zu langgedehnten Pausen. Sie wirken leer und depressiv. In "Adern", Lisa Wentz' erstem Stück, das Bösch vor drei Jahren am Burgtheater zur Uraufführung gebracht hat, waren sie vielgestaltiger: mal gefüllt, mal bleiern, mal dumpf, mal anrührend, mal sprechend ... Jetzt aber nur noch stumpf.
Die Sprache hat einen dialektalen Einschlag. Die Sätze werden entweder gebrüllt oder gemurmelt. In beiden Fällen versteht man sie schlecht. Offenbar liegen sie den Schauspielern nicht bequem im Mund. Man hätte an der Artikulation feilen müssen. Aber das unterblieb, wie auch sonst vieles bei Bösch.
In Tschechows "Kirschgarten" sagt der Student zum Unternehmer:
Weisst du, ich halte es für möglich, dass wir uns nie mehr begegnen werden, so erlaube mir wenigstens, dir zum Abschied einen Rat zu geben: Schlenkere nicht so mit den Armen, gewöhne dir diese Gewohnheit des Schlenkerns ab. Und auch das Villenbauen, das Austüfteln, wie aus Kleinsiedlern mit der Zeit selbständige Landwirte werden könnten, dies Berechnen und Kalkulieren – es ist ebenso in seiner Art nichts anderes als ein Geschlenker ... aber wie dem auch sei, ich mag dich trotzdem gern ... Du hast schmale und feine Finger wie ein Künstler, und du hast wohl auch eine feine und schmale Seele ...
So auch bei "Azur". David Bösch realisiert nicht klare, künstlerisch zwingende Vorstellungen, sondern, nun ja: Geschlenker. Das Haus, das sich dreht und dreht, zeigte Bühnenbildner Patrick Bannwart schon vor drei Jahren im Burgtheater. Also: Déjà-vu.
So auch beim Plot: Wie beim Stück "Hör auf zu lügen" (Arrête avec tes mensonges), das vor zwei Jahren in Paris nach dem gleichnamigen Roman von Philippe Besson zur Uraufführung kam, erzählt die Handlung von einem Bauernsohn, der sich das Ausleben der Homosexualität verbietet. Er bleibt auf dem Hof, geht eine Scheinehe ein, zeugt ein Kind (wohl aus dem Wunsch, sich umzupolen), und entledigt sich am Ende seiner Last durch Selbstmord.
In beiden Stücken ist ein Schulkamerad die Kontrastfigur. Er wird erfolgreicher Intellektueller. Steht zu seinem Schwulsein. Und kann trotzdem die grosse Beziehung nicht eingehen. Denn der Bauernsohn ist für ihn unerreichbar. Während also der eine vor seiner Veranlagung in die Bearbeitung der Erde flüchtet, sublimiert der andere das Verlangen durch Hervorbringung von Geschriebenem. Beiden ist es verwehrt, die grosse Liebe zu erleben.
Das französische Stück setzt 1985 ein, das österreichische 1988. Im französischen Stück ist der Klassenkamerad Schriftsteller, im österreichischen Journalist. Im französischen Stück kommt eine Tochter zur Welt, im österreichischen ein Sohn. Die beiden Produktionen springen zwischen Jugend- und Erwachsenenalter hin und her. Die französische Aufführung macht das flüssig und elegant, die österreichische ungelenk und schablonenhaft.
Im Unterschied zu Philippe Besson hat Lisa Wentz das Unglück noch durch eine Missbrauchsgeschichte verschärft: der Bauernsohn wurde im Internat von einem Priester verführt und aus der Bahn geworfen. Ist das eine Steigerung? Nein. Eher ein Déjà-vu. Eines zu viel – sowohl im Theater als auch in der Wirklichkeit.
*** Das grosse Heft/Der Beweis/Die dritte Lüge. Ágota Kristóf. Schauspiel nach der "Trilogie der Zwillinge". Mina Salehpour, Andrea Wagner, Sandro Tajouri, Jan Steinfatt. Burgtheater Wien.
> An der fünften Vorstellung ist das Akademietheater halb leer. Was ist los? Ist die Produktion zu anspruchsvoll? Die Pressestelle hat eine andere Erklärung: "Die beiden Schauspieler sind ganz neu im Ensemble. Und die Regisseurin ist mit dieser Arbeit das erste Mal in Wien und an der Burg vertreten. Aber wir sind zuversichtlich, dass sich die Qualität der Aufführung bald herumspricht ... " Beten wir darum. Es lohnt sich, für "Das grosse Heft" nach Wien zu reisen. <
Im Sommer 1974 feiert Janine Schwaar als Uhrenarbeiterin bei Longines S.A. in Saint-Imier ihre 25-jährige Firmenzugehörigkeit. Reporter Frank Musy lässt sie für Radio Suisse Romande ihre Tätigkeit schildern. 4 Minuten und 31 Sekunden dauert die Aufnahme:
Im Moment mache ich eine erste Zählung. Es geht darum, die Spirale auf die richtige Länge zu bringen. Sie ist recht klein. Es ist ein kleines Kaliber. Die Arbeit ist überhaupt nicht schwierig. Es ist eine Frage der Gewöhnung. Die Arbeit kommt in Serien. Für die fünfhundert Spiralen hier dauert es, sagen wir, sieben Stunden. Ich mache das schon seit fünfundzwanzig Jahren. Ich feiere dieses Jahr mein Jubiläum, ja. Ich habe diesen Beruf gewählt, weil er mir gefallen hat. Mein Vater war bereits Uhrmacher. Neben der Arbeit und dem Haushalt, na ja, wissen Sie, da sind die Stunden am Abend gezählt. Wirklich eng. Ich kaufe ein, ich mache daheim mein Abendessen, ich bereite das Essen für den nächsten Tag vor, und dann schauen wir noch ein bisschen fern. In den Ferien fahren wir ins Wallis. Wir mögen die Berge ... Ich habe immer in Saint-Imier gelebt. Ich bin hier geboren. Ich bin hier zur Schule gegangen. Wissen Sie, ich hänge an diesem Ort. Ich glaube nicht, dass ich von hier wegziehen möchte... Nein. Wirklich nicht.
In der Zeit, wo Janine Schwaar vom Westschweizer Radio besucht wird, arbeitet die aus Ungarn geflüchtete Ágota Kristóf in der Uhrenfabrik von Fontainemelon im benachbarten Kanton Neuenburg. Daneben schreibt sie. – Anfänglich ein paar Theaterstücke. Dann entsteht der erste Roman: "Das grosse Heft". Er erscheint 1986 bei den angesehenen Editions du Seuil, Paris. Ihm folgen "Der Beweis" (1988) und "Die dritte Lüge" (1991). Die drei werden unter dem Titel "Die Trilogie der Zwillinge" zusammengefasst. Der Werkkomplex ist jetzt als Produktion von Schauspiel Köln im Wiener Akademietheater zu sehen.
Während das Publikum nach und nach im Saal Platz nimmt, lässt Sandro Tajouri, der für Komposition und musikalische Einrichtung zeichnet, ein leises, tiefes Brummen einsickern. Bei Beginn der Aufführung werden die Zuschauer zuerst durch Jan Steinfatts grelles Licht geblendet, dann stürzt im Hintergrund von Andrea Wagners Bühne eine ganze Wand unter Poltern und Krachen zusammen. Wenn sich der Rauch nach der Katastrophe verzogen hat, treten die Schauspieler Bruno Cathomas und Seán McDonagh auf. Die beiden unterschiedlichen Männer (der eine besetzt, der andere schlank) verkörpern die eineiigen Zwillinge aus dem "grossen Heft". Sie sprechen wie aus einem Mund.
Es ist Krieg. Zum Schutz vor der Bedrohung wurden die Buben zum Haus der Grossmutter gebracht. Durch die Sprache baut sich eine gefährdete, feindselige Welt auf. Es braucht nur wenige Sätze, damit das Publikum in sie hineingezogen wird. Das verdankt die Aufführung Ágota Kristófs eigenwilligem Stil: Karg, sachlich, evokationsstark. Mina Salehpours Inszenierung wird ihm gerecht. Obwohl nur zwei Männer auf der Bühne stehen, ist die zweistündige Spieldauer erfüllt von Wahrheit und Kraft.
Das Zwillingspaar lebt hart an der Grenze. Sie trennt Länder, Regimes, Armeen, Völker, Auffassungen, Umstände, Zeiten. Das Bühnenbild deutet das an durch einen weissen Strich. Am Boden liegen Trümmer. Sie stehen den Menschen im Weg. An das Flutlicht der Überwachungsanlagen erinnern blendende Scheinwerfer. Ihr Aufglühen entspricht dem Explodieren von Granaten, Bomben und Minen. Aber die Inszenierung ist nicht illustrativ. Sie zeigt Abstraktionen, die symbolisch gelesen werden können. Davon lassen sich Bruno Cathomas und Seán McDonagh für ihre Spielweise inspirieren: Evokativ, nicht expressiv. Intensiv, nicht expansiv. Mit feinen Ausschlägen in der Satzmelodie. Vorzüglich.
Dabei zeigt der Abend, in Arthur Schopenhauers Worten:
Das Leben stellt sich dar als ein fortgesetzter Betrug, im Kleinen wie im Grossen. Hat es versprochen, so hält es nicht ... Wir haben eine Spanne Zeit zu leben, voll Mühe, Not, Angst und Schmerz, ohne im mindesten zu wissen, woher, wohin und wozu.
Ágota Kristófs "Trilogie der Zwillinge" entsteht zwischen 1984 und 91 in Fontainemelon. Währenddem beugt sich Janine Schwaar in Saint-Imier über die Werkbank. Sie bringt es auf eine Lebensleistung von fünf Millionen Spiralen.
*** Manhattan Project. Stefano Massini. (UA)
Schauspiel.
Stefan Bachmann, Olaf Altmann, Bernd Purkrabek, Sven Kaiser. Burgtheater Wien.
> An diesem Mittwochabend ist die Hälfte der Plätze im Wiener Akademietheater mit 15-Jährigen besetzt. Die Lehrer sind dem Bildungsauftrag nachgekommen, ihre Zöglinge zu konfrontieren mit der "anhaltenden ethischen Debatte über die Anwendung von Atomwaffen" und dem "Beginn des nuklearen Zeitalters" (Programmzettel). Doch der verordnete Theaterbesuch kommt bei vielen schlecht an. Drei Stunden im Finstern stillzusitzen und auf gesprochenes Wort zu achten, ist für sie langweilig. Sie beginnen zu tuscheln und die Handys hervorzuziehen. Einzelne verschwinden in der Pause. Die Boomer aber sitzen versunken da und stellen erschüttert fest, dass durch Putin und Trump manches im Begriff ist wiederzukommen. So beeinflusst der Kontext die Wirkung von Stefano Massinis "Manhattan Project". <
Das Bühnenbild von Olaf Altmann fokussiert die Handlung hauptsächlich auf die dreissig- bis vierzigjährigen ungarischen Emigranten jüdischer Herkunft. Die brillanten Köpfe sind vor den Faschisten nach Amerika ausgewichen. Ihre Namen: Leó Szilárd (1898–1964), Paul Erdős (1913–1996), Eugene Paul Wigner (1902–1995), Edward Teller (1908–2003), Lyman Briggs (1874–1963), Vannevar Bush (1890–1974). Dazu kommen der Finanzmann Alexander Sachs (1893–1973) und der Physiker Robert Oppenheimer (1904–1967). Sie tragen dazu bei, den Vereinigten Staaten die Kraft des Atoms zu erschliessen und durch den Abwurf von Bomben auf Hiroshima und Nagasaki den Zweiten Weltkrieg zu beenden.
Auf der Bühne erscheint ihre Figuration in einem Guckloch. Der Kreis steht für den Geheimbezirk der am "Manhattan Project" Beteiligten; er steht für die Tunnel der geheimen Versuchslabore; er steht für die Löcher der Raketenabschussrampen; er steht für die Null im Zahlensystem; und er steht für die Weltfremdheit der Akademiker.
Heute nennt man den Weg, der zur Bombe führte, "angewandte Forschung und Entwicklung". Im Gegenlicht (Bernd Purkrabek) gleichen die Wissenschafter zweidimensionalen Zeichen für mathematische Inhalte. Von vorne beleuchtet nehmen sie einen Körper an. So werden sie zur Kippfigur: Einerseits handelnder Mensch, anderseits Behandelter der Weltgeschichte.
Zwei Balken halten den Kreis stabil. Sie bilden je nach Position ein + oder X. Beide Zeichen spielen in den exakten Wissenschaften eine Rolle. Dazu aber steht X auch für die Zeit, gemäss der alten rabbinischen Weisheit, die der Verfasser Stefano Massini zitiert: Beim X liegt die Gegenwart im Schnittpunkt der Winkel. Von unten läuft die Vergangenheit durch den "Point of now" nach oben in die Zukunft. – Mit derlei Symbolik fasst das Bühnenbild den Inhalt der gesamten dreistündigen Aufführung zusammen und schafft aussagestarke Minimal Art.
Von gleicher Klugheit erweist sich die Führung der Darsteller durch Stefan Bachmann und die Komposition der Musik durch Sven Kaiser. Wenn es im Stück um Konstruktionen von Naturwissenschaft und Technik, Konfrontation von politischen und weltanschaulichen Positionen geht – so antwortet die Inszenierung darauf mit fliessenden, organischen Verläufen. Damit stellt das Theater die Geschichte ästhetisch ins Lot.
Thiemo Strutzenberger, Felix Rech, Max Simonischek, Justus Maier, Markus Meyer, Jonas Hackmann und Michael Wächter bilden ein fein austariertes Ensemble, bei dem sich individuelle Charakterisierung und souveränes Zusammenspiel die Hand reichen. Die Sprachgestaltung ist einwandfrei. Burgtheater vom feinsten.
Übers Ganze gesehen formt "Manhattan Project" mit beinahe schon untergegangener Sensibilität den Gegenpol zu den Verbrechen der Vergangenheit, dem Irrsinn der Gegenwart und den düsteren Vorzeichen der Zukunft. Den Schülern aber gehört ins Stammbuch: "Stehe auf, Balak, und höre! Nimm zu Ohren, was ich sage, du Sohn Zippors!" (4. Mose, 23, 18)
*** Fräulein Else. Arthur Schnitzler.
Monolog nach der gleichnamigen Erzählung.
Leonie Böhm und Julia Riedler. Volkstheater Wien.
> Bei erleuchtetem Saal sucht sich die Schauspielerin Julia Riedler einen Weg durch die Reihen. Einzelne Zuschauer spricht sie an: "Paul, wie geht es dir?" Dann erklärt sie: "Paul ist mein Lieblingsvetter." Sie fragt nach dem Veronal. "Weiss jemand, was das ist? Nein? Ein Schlafmittel. Ich habe schon einmal eine Dosis genommen." Sie überlegt: "Acht werden reichen. Nein, besser zehn!" Das Medikament soll helfen, durch Selbstmord ein furchtbares Dilemma zu lösen. Nach der Tat lässt "Fräulein Else" die Zuschauer aufgewühlt zurück. Der Vorhang zu, und alle Fragen offen. Theater als Denkanstoss. <
Vor neun Jahren hatte die Direktorin Anna Badora ihre erste Spielzeit. Die Kulturszene erhoffte sich viel von ihr. Doch die Zuschauer blieben aus. Nach sieben Monaten gestand Jan Thümer, der Darsteller des Iwanow: "Es geht im Volkstheater immer noch Spitz auf Knopf." Das Publikum war hoffnungslos überaltert. Sein Auffassungsvermögen war so verlangsamt, dass es nur glotzen, aber nicht reagieren konnte. Für die Darsteller war das fatal. Sie spielten wie in Watte und spürten das Gegenüber nicht.
Im laufenden Jahr geht nun Kai Voges' letzte Spielzeit zuende. Er war Nachfolger der glücklosen Badora und brachte das Haus in kurzer Zeit dermassen nach oben, dass es ans Berliner Theatertreffen eingeladen wurde und heute vor vollen Sälen spielt. Das Schönste aber ist: Die Hälfte des Publikums ist jung.
"Seid ihr mit der Klasse da?", fragt die Schauspielerin. Sie hat die Vorbühne erklommen und wendet sich vom eisernen Vorhang aus an die mittleren Reihen: "Wie alt bist du? Achtzehn?" "Nein, siebzehn." "Möchte jemand ein Selfie mit mir machen?" Jubelnd strecken die jungen Leute das Handy auf. Ab jetzt sind alle Freunde der Schauspielerin. Die Beziehung ist geschlossen.
Immer wieder springt die Interaktion von der Schauspielerin in den Saal. Mit lockerer und zugleich geübter Hand führt Julia Riedler an Fräulein Else heran, und Arthur Schnitzlers Gestalt wird zu jemandem wie wir. Ihre Nöte, Ängste und Träume dringen in uns ein. "Vergegenwärtigung" ist das Markenzeichen der Regisseurin Leonie Böhm.
Die Aufführung setzt sich aus vielen Schichten zusammen. Sie bringt Sätze der Schauspielerin, Sätze des Publikums, Sätze des Autors und Sätze der fiktionalen Figuren. Mal ist Julia Riedler in der Situation von Fräulein Else, mal steht sie darüber. Mal reflektiert sie selbst, mal ruft sie zur Reflexion auf. Am Schluss erklimmt die Aufführung den Gipfel der Ambivalenz: Die Bühnenhandlung ist gleichzeitig Realität und Zeichen. Was man sieht, ist etwas und gleichzeitig ein anderes.
Vor dem eisernen Vorhang gibt Fräulein Else der Erpressung des Voyeurs nach und zieht sich aus. Aber nicht nur für ihn, sondern auch für das Publikum: "Wenn einer mich sieht, dann sollen mich auch andere sehen. Die ganze Welt soll mich sehen." Im Saal breitet sich Schweigen aus. Die Nacktheit löst sich vom Körper der Schauspielerin ab und wird zur Chiffre für die unmenschliche Ausbeutung gutartiger Wesen.
Gibt es keinen Ausweg? Der eiserne Vorhang geht auf. Er gibt den Blick auf die Riesenbühne des Volkstheaters frei. Sie ist voller Nebel. Julia Riedler verschwindet in ihm. Auf diese Weise vollzieht sie nach voyeuristischer Schändung vor aller Augen Elses Selbstmord.
Nach der Vorstellung laden Dramaturgie und Ensemble zu einem Gespräch in der Roten Bar ein. Die Aufführung gibt viel zu denken. "Fräulein Else" wirkt auf das Gemüt und Leben der Zuschauer ein.