Fräulein Else. Arthur Schnitzler.
Monolog nach der gleichnamigen Erzählung.
Leonie Böhm und Julia Riedler. Volkstheater Wien.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. Februar 2025.
> Bei erleuchtetem Saal sucht sich die Schauspielerin Julia Riedler einen Weg durch die Reihen. Einzelne Zuschauer spricht sie an: "Paul, wie geht es dir?" Dann erklärt sie: "Paul ist mein Lieblingsvetter." Sie fragt nach dem Veronal. "Weiss jemand, was das ist? Nein? Ein Schlafmittel. Ich habe schon einmal eine Dosis genommen." Sie überlegt: "Acht werden reichen. Nein, besser zehn!" Das Medikament soll helfen, durch Selbstmord ein furchtbares Dilemma zu lösen. Nach der Tat lässt "Fräulein Else" die Zuschauer aufgewühlt zurück. Der Vorhang zu, und alle Fragen offen. Theater als Denkanstoss. <
Vor neun Jahren hatte die Direktorin Anna Badora ihre erste Spielzeit. Die Kulturszene erhoffte sich viel von ihr. Doch die Zuschauer blieben aus. Nach sieben Monaten gestand Jan Thümer, der Darsteller des Iwanow: "Es geht im Volkstheater immer noch Spitz auf Knopf." Das Publikum war hoffnungslos überaltert. Sein Auffassungsvermögen war so verlangsamt, dass es nur glotzen, aber nicht reagieren konnte. Für die Darsteller war das fatal. Sie spielten wie in Watte und spürten das Gegenüber nicht.
Im laufenden Jahr geht nun Kai Voges' letzte Spielzeit zuende. Er war Nachfolger der glücklosen Badora und brachte das Haus in kurzer Zeit dermassen nach oben, dass es ans Berliner Theatertreffen eingeladen wurde und heute vor vollen Sälen spielt. Das Schönste aber ist: Die Hälfte des Publikums ist jung.
"Seid ihr mit der Klasse da?", fragt die Schauspielerin. Sie hat die Vorbühne erklommen und wendet sich vom eisernen Vorhang aus an die mittleren Reihen: "Wie alt bist du? Achtzehn?" "Nein, siebzehn." "Möchte jemand ein Selfie mit mir machen?" Jubelnd strecken die jungen Leute das Handy auf. Ab jetzt sind alle Freunde der Schauspielerin. Die Beziehung ist geschlossen.
Immer wieder springt die Interaktion von der Schauspielerin in den Saal. Mit lockerer und zugleich geübter Hand führt Julia Riedler an Fräulein Else heran, und Arthur Schnitzlers Gestalt wird zu jemandem wie wir. Ihre Nöte, Ängste und Träume dringen in uns ein. "Vergegenwärtigung" ist das Markenzeichen der Regisseurin Leonie Böhm.
Die Aufführung setzt sich aus vielen Schichten zusammen. Sie bringt Sätze der Schauspielerin, Sätze des Publikums, Sätze des Autors und Sätze der fiktionalen Figuren. Mal ist Julia Riedler in der Situation von Fräulein Else, mal steht sie darüber. Mal reflektiert sie selbst, mal ruft sie zur Reflexion auf. Am Schluss erklimmt die Aufführung den Gipfel der Ambivalenz: Die Bühnenhandlung ist gleichzeitig Realität und Zeichen. Was man sieht, ist etwas und gleichzeitig ein anderes.
Vor dem eisernen Vorhang gibt Fräulein Else der Erpressung des Voyeurs nach und zieht sich aus. Aber nicht nur für ihn, sondern auch für das Publikum: "Wenn einer mich sieht, dann sollen mich auch andere sehen. Die ganze Welt soll mich sehen." Im Saal breitet sich Schweigen aus. Die Nacktheit löst sich vom Körper der Schauspielerin ab und wird zur Chiffre für die unmenschliche Ausbeutung gutartiger Wesen.
Gibt es keinen Ausweg? Der eiserne Vorhang geht auf. Er gibt den Blick auf die Riesenbühne des Volkstheaters frei. Sie ist voller Nebel. Julia Riedler verschwindet in ihm. Auf diese Weise vollzieht sie nach voyeuristischer Schändung vor aller Augen Elses Selbstmord.
Nach der Vorstellung laden Dramaturgie und Ensemble zu einem Gespräch in der Roten Bar ein. Die Aufführung gibt viel zu denken. "Fräulein Else" wirkt auf das Gemüt und Leben der Zuschauer ein.