Nur schwarze Trümmer. © Tommy Hetzel.

 
 

 

Das grosse Heft/Der Beweis/Die dritte Lüge. Ágota Kristóf. Schauspiel nach der "Trilogie der Zwillinge". Mina Salehpour, Andrea Wagner, Sandro Tajouri, Jan Steinfatt. Burgtheater Wien.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. Februar 2025.

 

> An der fünften Vorstellung ist das Akademietheater halb leer. Was ist los? Ist die Produktion zu anspruchsvoll? Die Pressestelle hat eine andere Erklärung: "Die beiden Schauspieler sind ganz neu im Ensemble. Und die Regisseurin ist mit dieser Arbeit das erste Mal in Wien und an der Burg vertreten. Aber wir sind zuversichtlich, dass sich die Qualität der Aufführung bald herumspricht ... " Beten wir darum. Es lohnt sich, für "Das grosse Heft" nach Wien zu reisen. <

 

Im Sommer 1974 feiert Janine Schwaar als Uhrenarbeiterin bei Longines S.A. in Saint-Imier ihre 25-jährige Firmenzugehörigkeit. Reporter Frank Musy lässt sie für Radio Suisse Romande ihre Tätigkeit schildern. 4 Minuten und 31 Sekunden dauert die Aufnahme:

 

Im Moment mache ich eine erste Zählung. Es geht darum, die Spirale auf die richtige Länge zu bringen. Sie ist recht klein. Es ist ein kleines Kaliber. Die Arbeit ist überhaupt nicht schwierig. Es ist eine Frage der Gewöhnung. Die Arbeit kommt in Serien. Für die fünfhundert Spiralen hier dauert es, sagen wir, sieben Stunden. Ich mache das schon seit fünfundzwanzig Jahren. Ich feiere dieses Jahr mein Jubiläum, ja. Ich habe diesen Beruf gewählt, weil er mir gefallen hat. Mein Vater war bereits Uhrmacher. Neben der Arbeit und dem Haushalt, na ja, wissen Sie, da sind die Stunden am Abend gezählt. Wirklich eng. Ich kaufe ein, ich mache daheim mein Abendessen, ich bereite das Essen für den nächsten Tag vor, und dann schauen wir noch ein bisschen fern. In den Ferien fahren wir ins Wallis. Wir mögen die Berge ... Ich habe immer in Saint-Imier gelebt. Ich bin hier geboren. Ich bin hier zur Schule gegangen. Wissen Sie, ich hänge an diesem Ort. Ich glaube nicht, dass ich von hier wegziehen möchte... Nein. Wirklich nicht.

 

In der Zeit, wo Janine Schwaar vom Westschweizer Radio besucht wird, arbeitet die aus Ungarn geflüchtete Ágota Kristóf in der Uhrenfabrik von Fontainemelon im benachbarten Kanton Neuenburg. Daneben schreibt sie. – Anfänglich ein paar Theaterstücke. Dann entsteht der erste Roman: "Das grosse Heft". Er erscheint 1986 bei den angesehenen Editions du Seuil, Paris. Ihm folgen "Der Beweis" (1988) und "Die dritte Lüge" (1991). Die drei werden unter dem Titel "Die Trilogie der Zwillinge" zusammengefasst. Der Werkkomplex ist jetzt als Produktion von Schauspiel Köln im Wiener Akademietheater zu sehen.

 

Während das Publikum nach und nach im Saal Platz nimmt, lässt Sandro Tajouri, der für Komposition und musikalische Einrichtung zeichnet, ein leises, tiefes Brummen einsickern. Bei Beginn der Aufführung werden die Zuschauer zuerst durch Jan Steinfatts grelles Licht geblendet, dann stürzt im Hintergrund von Andrea Wagners Bühne eine ganze Wand unter Poltern und Krachen zusammen. Wenn sich der Rauch nach der Katastrophe verzogen hat, treten die Schauspieler Bruno Cathomas und Seán McDonagh auf. Die beiden unterschiedlichen Männer (der eine besetzt, der andere schlank) verkörpern die eineiigen Zwillinge aus dem "grossen Heft". Sie sprechen wie aus einem Mund.

 

Es ist Krieg. Zum Schutz vor der Bedrohung wurden die Buben zum Haus der Grossmutter gebracht. Durch die Sprache baut sich eine gefährdete, feindselige Welt auf. Es braucht nur wenige Sätze, damit das Publikum in sie hineingezogen wird. Das verdankt die Aufführung Ágota Kristófs eigenwilligem Stil: Karg, sachlich, evokationsstark. Mina Salehpours Inszenierung wird ihm gerecht. Obwohl nur zwei Männer auf der Bühne stehen, ist die zweistündige Spieldauer erfüllt von Wahrheit und Kraft.

 

Das Zwillingspaar lebt hart an der Grenze. Sie trennt Länder, Regimes, Armeen, Völker, Auffassungen, Umstände, Zeiten. Das Bühnenbild deutet das an durch einen weissen Strich. Am Boden liegen Trümmer. Sie stehen den Menschen im Weg. An das Flutlicht der Überwachungsanlagen erinnern blendende Scheinwerfer. Ihr Aufglühen entspricht dem Explodieren von Granaten, Bomben und Minen. Aber die Inszenierung ist nicht illustrativ. Sie zeigt Abstraktionen, die symbolisch gelesen werden können. Davon lassen sich Bruno Cathomas und Seán McDonagh für ihre Spielweise inspirieren: Evokativ, nicht expressiv. Intensiv, nicht expansiv. Mit feinen Ausschlägen in der Satzmelodie. Vorzüglich. 

 

Dabei zeigt der Abend, in Arthur Schopenhauers Worten:

 

Das Leben stellt sich dar als ein fortgesetzter Betrug, im Kleinen wie im Grossen. Hat es versprochen, so hält es nicht ... Wir haben eine Spanne Zeit zu leben, voll Mühe, Not, Angst und Schmerz, ohne im mindesten zu wissen, woher, wohin und wozu.

 

Ágota Kristófs "Trilogie der Zwillinge" entsteht zwischen 1984 und 91 in Fontainemelon. Währenddem beugt sich Janine Schwaar in Saint-Imier über die Werkbank. Sie bringt es auf eine Lebensleistung von fünf Millionen Spiralen.

Die Zwillinge. Früher ... 

... und später. 

 
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