Während die Bühnenarbeiter die Kulisse entfernen, spielt Nils Strunk für seine Fans weiter. © Michel Schaer.
Die Schachnovelle. Stefan Zweig.
Schauspiel nach der gleichnamigen Novelle.
Nils Strunk, Lukas Schrenk. Burgtheater Wien.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. Februar 2025.
> Wann hat es das schon gegeben? Am Ende der Aufführung ruft das riesige, vollbesetzte Haus wie aus einer Kehle bravo, und unterm Klatschen erhebt sich Reihe um Reihe, Rang um Rang bis hinauf zur Galerie. Einzelne können nicht mitjubeln. Sie haben eine zugeschnürte Kehle. Das letzte Werk von Stefan Zweig hat sie mitgenommen. Einen Tag, nachdem der Autor im südamerikanischen Exil das Typoskript der "Schachnovelle" zur Post gebracht hatte, beging er mit seiner Frau Lotte Selbstmord. Auf diesen Endpunkt hin bewegt sich auch Nils Strunks magistrale Aufführung. Die Produktion hätte es verdient, ans Theatertreffen eingeladen zu werden. Jetzt aber müssen die Berliner nach Wien fahren. Acht Stunden mit der deutschen Bahn. Einmal umsteigen. Aber was will man? Das Spitzenwerk des Theatertreffens läuft nun mal am Burgtheater. <
Keinen anderen Titel bekommen die Deutschlehrer und Experten an der mündlichen Maturprüfung häufiger nacherzählt als Stefan Zweigs "Schachnovelle". Bei Schülern, die nicht gerne lesen, ist das Werk beliebt: kurz und billig, dazu spannend und leicht verständlich. Vielleicht hat es auch Nils Strunk am Gymnasium kennengelernt. Jedenfalls führt er als Vorlage für seine Produktion am Wiener Burgtheater die 80-seitige Reclam-Ausgabe an.
Die Ambitionierteren wählen andere, umfangreichere Prüfungstexte: "Der Vorzugsschüler versteht es, dem Professor die Neigungen abzugucken", erklärt Alfred Polgar und fährt fort:
Aber wenn wir auch den Vorzugsschüler nie recht leiden mochten, wir konnten doch nicht sagen, dass er seine Position nicht verdient hätte. Er war ja wirklich fleissig, sittlich, musterhaft, war immer wohlpräpariert und hatte immer ein Löschblatt in seinen reinlichen Heften. Er erreichte stets als Erster "das Ziel der Klasse" und zog als sieghaftes Vorbild durch den feindlichen Irrgarten der Schule, worauf er sich dann, im Leben, ziemlich spurlos verlor, bis man ihn, Jahre später, als tyrannischen Beamten oder sowas wiedertraf.
Nun aber füllt das Werk für die schwachen Schüler das Haus am Ring und bringt die Besucher zum Jubeln. Dabei handelt "Die Schachnovelle" von nichts anderem als von Leid, Gewalt und Untergepflügtwerden durch die Starken, entsprechend dem Brettspiel mit seiner gnadenlosen Trennung in Weiss und Schwarz. Die Virtuosität, mit der die Vorlage nun auf die Bühne kommt, bildet den hellen Rahmen für einen dunklen Kontrapunkt: Verfolgung der Kommunisten, Kirchen, Klöster, Juden und Demokraten durch die Nazis.
Die Vorstellung beginnt mit dem Ablegen eines Südamerikadampfers. Der Erzähler und die dreiköpfige Bordkapelle sind als Matrosen kostümiert. Nils Strunk spinnt den Faden locker an. Er spielt einen Besucher, der einen Passagier begleitet. Einmal auf dem Schiff, lernt der Fahrgast weitere Passagiere kennen. Gemäss dem Babuschka-Prinzip kommt hinter jeder Figur eine neue zum Vorschein. Nils Strunk spielt sie alle.
Das Verwandlungsgenie steht dauernd auf der Bühne – fast zwei Stunden – und nimmt eine solche Vielfalt von Gebärden, Haltungen und Gesichtszügen an, dass das Publikum von ihm gleichermassen mitgenommen wird, wie wenn es einer figurenreichen Shakespeare-Tragödie beiwohnte. In der Aufführung wird die Musik selbst zur Sprache (Komposition Nils Strunk, Songtexte und Co-Regie Lukas Schrenk). Die weissen und schwarzen Tasten des Klaviers geben jene fatale Schachpartie wieder, aus welcher das einstmalige Leid und Grauen der Nazizeit wieder emporsteigen. Dann führt das entfesselte Schlagzeug zum Zusammenbruch des Dr. B.
Wer meinte, "Die Schachnovelle" vom Gymnasium her zu kennen, verlässt das Burgtheater mit weichen Knien. Die Aufführung überragt sein schülerhaftes Vorstellungsvermögen, und er bekommt von ihr das Werk noch einmal geschenkt. Unauslöschlich.
Die Musik wird zur Sprache. © Tommy Hetzel.
Aus dem Spiel wird Ernst.
Und drüben ist Hitler.