Als Leitmotiv dient die azurblaue Farbe. © Moritz Schell.

 
 
 

Azur oder die Farbe des Wassers. Lisa Wentz. (UA)

Schauspiel.

David Bösch, Patrick Bannwart. Theater in der Josefstadt, Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. Februar 2025.

 

> Die Uraufführung in der Wiener Josefstadt bringt ein dreifaches Déjà-vu: Déjà-vu bei der Handlung, Déjà-vu beim Bühnenbild und Déjà-vu bei der Regie. Die drei Déjà-vus machen das zweite Stück von Lisa Wentz, der dreissigjährigen österreichischen Dramatikerin aus dem Tirol, zur Enttäuschung. <

 

Die Handlung führt tief aufs Land, wo es am verhocktesten und am katholischsten ist. Auf dem abgelegenen Bauernhof von "Azur" wird vor jeder Mahlzeit gebetet; der Segen lateinisch gesprochen. Doch im übrigen lastet am Tisch das Schweigen. Die Menschen sind wortkarg. Sie unterdrücken ihr Inneres.

 

Bei den Jungen führt das zu Spannungen. Sie ducken sich zwar noch vor der elterlichen Autorität, bekunden aber ihr Aufbegehren durch Flucht in andere Welten: Die Tochter zur Musik von Madonna aus dem Kassettenrekorder, der Sohn zum Malen von Bildern in Azurblau.

 

Azur ist die Farbe, die er nie verwendet hat, wenn er im Internat mit einer vom frommen Vater geschenkten Palette den Geistlichen malen musste. (Der leibliche Vater ist tot; sein Bild hängt in der Küche an der Wand.) Damit ist Azur nicht nur die Farbe des Himmels und des Wassers, sondern auch die Farbe der Reinheit.

 

Um dem Schweigen Gewicht zu geben, greift Regisseur David Bösch zu langgedehnten Pausen. Sie wirken leer und depressiv. In "Adern", Lisa Wentz' erstem Stück, das Bösch vor drei Jahren am Burgtheater zur Uraufführung gebracht hat, waren sie vielgestaltiger: mal gefüllt, mal bleiern, mal dumpf, mal anrührend, mal sprechend ... Jetzt aber nur noch stumpf.

 

Die Sprache hat einen dialektalen Einschlag. Die Sätze werden entweder gebrüllt oder gemurmelt. In beiden Fällen versteht man sie schlecht. Offenbar liegen sie den Schauspielern nicht bequem im Mund. Man hätte an der Artikulation feilen müssen. Aber das unterblieb, wie auch sonst vieles bei Bösch.

 

In Tschechows "Kirschgarten" sagt der Student zum Unternehmer: 

 

Weisst du, ich halte es für möglich, dass wir uns nie mehr begegnen werden, so erlaube mir wenigstens, dir zum Abschied einen Rat zu geben: Schlenkere nicht so mit den Armen, gewöhne dir diese Gewohnheit des Schlenkerns ab. Und auch das Villenbauen, das Austüfteln, wie aus Kleinsiedlern mit der Zeit selbständige Landwirte werden könnten, dies Berechnen und Kalkulieren – es ist ebenso in seiner Art nichts anderes als ein Geschlenker ... aber wie dem auch sei, ich mag dich trotzdem gern ... Du hast schmale und feine Finger wie ein Künstler, und du hast wohl auch eine feine und schmale Seele ...  

 

So auch bei "Azur". David Bösch realisiert nicht klare, künstlerisch zwingende Vorstellungen, sondern, nun ja: Geschlenker. Das Haus, das sich dreht und dreht, zeigte Bühnenbildner Patrick Bannwart schon vor drei Jahren im Burgtheater. Also: Déjà-vu.

 

So auch beim Plot: Wie beim Stück "Hör auf zu lügen" (Arrête avec tes mensonges), das vor zwei Jahren in Paris nach dem gleichnamigen Roman von Philippe Besson zur Uraufführung kam, erzählt die Handlung von einem Bauernsohn, der sich das Ausleben der Homosexualität verbietet. Er bleibt auf dem Hof, geht eine Scheinehe ein, zeugt ein Kind (wohl aus dem Wunsch, sich umzupolen), und entle­digt sich am Ende seiner Last durch Selbstmord.

 

In beiden Stücken ist ein Schulkamerad die Kontrastfigur. Er wird erfolgreicher Intellektueller. Steht zu seinem Schwul­sein. Und kann trotzdem die grosse Beziehung nicht eingehen. Denn der Bauernsohn ist für ihn unerreichbar. Während also der eine vor seiner Veranlagung in die Bearbeitung der Erde flüch­tet, sublimiert der andere das Verlangen durch Hervorbringung von Geschriebenem. Beiden ist es verwehrt, die grosse Liebe zu erleben.

 

Das französische Stück setzt 1985 ein, das österreichische 1988. Im französischen Stück ist der Klassenkamerad Schriftsteller, im österreichischen Journalist. Im französischen Stück kommt eine Tochter zur Welt, im österreichischen ein Sohn. Die beiden Produktionen springen zwischen Jugend- und Erwachsenenalter hin und her. Die französische Aufführung macht das flüssig und elegant, die österreichische ungelenk und schablonenhaft.

 

Im Unterschied zu Philippe Besson hat Lisa Wentz das Unglück noch durch eine Missbrauchsgeschichte verschärft: der Bauernsohn wurde im Internat von einem Priester verführt und aus der Bahn geworfen. Ist das eine Steigerung? Nein. Eher ein Déjà-vu. Eines zu viel – sowohl im Theater als auch in der Wirklichkeit.

Bei aller Liebe ... 

... gibt es ... 

... kein Entkommen. 

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