Nachtland. Marius von Mayenburg.
Schauspiel.
Ramin Gray. Theater in der Josefstadt, Wien.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. Februar 2025.
> Von Anfang an ist Zug in der Sache. Marius von Mayenburgs "Nachtland" spielt im Haus eines Verstorbenen. Die Erben, ein Geschwisterpaar mit den jeweiligen Partnern, haben sich zum Räumen der Hinterlassenschaft zusammengefunden. Bis zum Ende der anderthalbstündigen Aufführung hört es nicht auf zu knistern. Dass die Spannung hält, liegt am vorzüglichen Stück, dessen Wendungen eines Lessing würdig sind, und es liegt am erstklassigen Ensemble, das die Personen mit souveräner Beiläufigkeit rasch und leicht zur Darstellung bringt. Rundum Natürlichkeit, Stimmigkeit, Eleganz. Und das bei einem Schauspiel, auf welches Goethes Formulierung "diese sehr ernsten Scherze" zutrifft. <
Gleich wie ein Streichquintett mit einem Akkord den Anfang markiert, bringt Regisseur Ramin Gray die fünf Darsteller durch einen geschwinden Dreh auf die Bühne. Das ergibt einen echten Auftritt der Erben (Bruder und Schwester) mit ihren jeweiligen Partnern. Die fünfte Person aber, eine Frau mit langen, blonden Haaren, gleitet ungesehen durch die Gruppe und taucht erst am Ende wieder auf, um dem Stück eine neue Variante der schlimmstmöglichen Wendung zu geben.
Marius von Mayenburgs "Nachtland" ist sozusagen der bundesdeutsche Zwillingsort von Güllen. Wie beim "Besuch der alten Dame" geht es um Korruption der Überzeugungen durch sehr viel Geld. Menschen wie du und ich, die sich für politisch korrekt anschauten, setzen unversehens ihre ganze Energie ein, um für die Eltern und Grosseltern den "Arier"-, das heisst im konkreten Fall: den Nazi-Nachweis zu erbringen. Denn wenn die Altvorderen in der braunen Suppe schwammen, stammt das auf dem Estrich gefundene Gemälde "Ruprechtskirche im ersten Bezirk" zweifelsfrei von Adolf Hitler. Und durch diese Provenienz steigt der Preis ums Hundertfache.
Parallel zur Frage nach der Provenienz des Bildes bringen die flüssigen Dialoge auch die der Provenienz der unauffälligen Menschen ans Licht, welche heute in Deutschland (das heisst: in "Nachtland") leben und wählen.
Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht ...
(Heinrich Heine)
Das Aufdecken – Kerngeschäft der Komödie – erhält durch die straff gebaute Handlung gleichzeitig akrobatischen und diabolischen Charakter. Das Knistern klingt nach Elektrizität und riecht nach Schwefel. So halten sich moralische Abstossung und ästhetische Anziehung die Waage, und Marius von Mayenburg vollzieht Äquilibristik von höchstem Rang.
Der braune Sumpf, aus dem das belastende, das Hitler-Gemälde jedoch adelnde Beweismaterial als Licht gezogen wird, besteht aus "verfaultem" Zwetschgenmus, welches in der "Abfall"-wanne "entsorgt" wurde, nun aber "wieder" hervorkommt und "alles beschmiert". (Ich setze die Wörter in Anführungszeichen, um auf ihre Doppeldeutigkeit hinzuweisen.) Die mittelalterliche Schwager, sarkastischerweise "Fabian" genannt, streckt triumphierend ein paar wiedergefundene Briefblätter in die Luft und ruft: "Heil Hitler!" Doch beim Lösen der "Glasscheibe" vom "Rahmen" hat sich Fabian am Daumen "verletzt" und geht an der "Ansteckung" "zugrund", die er sich durch "Starrkrampf-Bazillen" zuzog. So wunderbar ist das Stück: leicht, konzis und doppelbödig spielt es mit dem Entsetzen, bis im Saal jedem Selbstgerechten die Haare zu Berge steigen.
Dazu passt, dass die Inszenierung vom 61-jährigen Ramin Gray besorgt wurde, einem Theaterdirektor mit iranischem (muslimischem) und britischem (jüdischem) Erbe. Er spricht Englisch, Persisch, Französisch und Deutsch. – Als Roland Donzé an der Universität Bern noch Philologie unterrichtete, sagte er: "Ich merke immer, wenn eine Arbeit von einem Juden geschrieben wurde. Woran? An der besonderen Fluidität. Das Denken der durchschnittlichen Studenten hat etwas Schematisches. Die Juden aber, die können mit den Gedanken spielen." Diese besondere jüdische Fluidität findet sich nun – wen wundert's? – in der Inszenierung von "Nachtland" an den Kammerspielen der Josefstadt. Ja, Nathan. Im Osten ... drei Söhne ... alle gleich zu lieben ... der Vater ... sich nicht entbrechen konnte ...
Wenn es von Hitler wäre?
Hier ist der Beweis!