Schimmernde Schluchten. Anaïs Clerc.
Schauspiel.
Amelie von Godin, Kristin Buddenberg. Bühnen Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 22. Januar 2025.
> Die Sätze strecken dem Schweizer Gemüt die Arme entgegen. Mit Goodies zwischen den Fingern locken sie: "Komm!" Und die Seele wedelt mit dem Schwanz, wenn sie vernimmt, dass im Dorfladen der "Blick" zum Verkauf aufgelegt wird, dass sich jemand nach veganer Schokolade erkundigt und dass im Zivilschutzbunker nebenan geflüchtete Menschen schlafen müssen. "Das ist ja wie bei uns!", sagt sie und fühlt sich in der schwarzen, fensterlosen Box von Vidmar 2 gleich heimisch, obwohl da eine Uraufführung gegeben wird. Aber dank der Vertrautheit von Sprache, Spielweise und Thematik ist der Identifikationsgrad hoch, und männiglich kann sich einen Reim aufs Geschehen machen, unabhängig von Geschlecht und Alter. <
In zeitlicher Hinsicht bewegt sich das Spiel zwischen den Polen Vergangenheit und Zukunft. In der Vergangenheit liegt eine ungelöste Frage. Sie findet erst gegen den Schluss hin eine Antwort: Warum hat sich der junge, etwa dreissigjährige Armin von der Welt abgewandt und weit oben in den Bergen im einsamen Haus der mit über neunzig Jahren verstorbenen Grossmutter eingekerkert? Dort vernachlässigt er jetzt in depressiver Untätigkeit die drei Bernhardinerhunde im Gehege und gedenkt, sie zu verkaufen.
Die Zukunft kündet sich an mit atmosphärischer Veränderung: Unter dem Einfluss von Feuchtigkeit und Wärme wird der Schnee bedrohlich. Am Ende geht die Lawine nieder. Die weissen Massen begraben Armin und seine etwas jüngere Schwester Armela.
Mit dieser Konstruktion bringt Anäis Clerc Zug in die Sache. Die Gegenwart ist eingespannt zwischen die Fragen: "Was ist geschehen?" und: "Wie kommt es heraus?" Dadurch wird im Stück alles Vernommene belangvoll. Es liefert Elemente für die Antwort, und der Zuschauer bleibt dabei, auch wenn er anfangs nicht weiss, wie er das Gesagte einzuordnen hat.
Zwei weitere Pole strukturieren die "Schimmernden Schluchten": der Bruder und die Schwester. Beide sind einfache, anspruchslose Bergkinder. An einem Infotag hat sich Armin für den Beruf des Grenzpolizisten begeistern lassen, und Armela ist als Verkäuferin in den Dorfladen eingetreten. Dort räumt sie die Gestelle ein, legt den "Blick" zum Verkauf aus und zieht die Waren über den Scanner: Bip, bip, bip.
Der Wiedererkennungseffekt ist gross. Mit ihm packt Anäis Clerc das Publikum in den Berner Vidmarhallen, zumal sie im Gegensatzpaar von Bruder und Schwester auch den Gegensatz von links und rechts mitbehandelt. Auf diese Weise etabliert sie in bewährter Theatermanier einen weltanschaulichen Konflikt.
Die bescheidene, gutartige Schwester fühlt sich angezogen von der Menschlichkeit linksalternativer Unterländer, die sich im Dorfladen versorgen, während sie eine Demo gegen die Unterbringung von Migranten im Bunker vorbereiten. Der Bruder als Angehöriger der staatlichen Gewalt erhält derweil den Befehl zum ersten Einsatz.
Als es zur Entscheidung kommt und die Gruppen aufeinanderstossen (die Demonstranten, die Gegendemonstranten, die gaffende Bergbevölkerung und die Ordnungsmacht), nehmen beide, Bruder und Schwester, je auf ihre Weise Reissaus. Sie stehen für nichts anderes ein als für sich selbst. Im Entscheidungsmoment verhalten sie sich "neutral".
Doch nun zieht Anäis Clerc einen weiteren Gegensatz ein: Mensch und Tier. Zum angestammten Familiensitz gehören drei Bernhardinerhunde. Wohlverwahrt in ihrem Gehege haben sie ihren menschenfreundlichen Helfercharakter verloren und sich an seiner Stelle eine Mischung von Beamten- und Spiessermentalität zugelegt. Wenn sie jetzt die Rufe des verschütteten Geschwisterpaars aus der Lawine vernehmen, sagt der älteste Hund: "Wir müssen zuerst abstimmen!" Und das Resultat zeigt: Eigeninteresse und Bequemlichkeit gehen vor.
Dramaturgisch regt das Element der Fabel die Zuschauerbeteiligung an, denn die pelzigen Wesen mobilisieren Sympathie, vor allem, wenn die Darsteller ihre Blaff- und Wuff-Laute imitieren. Und allen ist die Argumentationsweise der Hunde vertraut: "Das ist ja wie bei uns!" Das heisst: tierisch und unmenschlich. Fabula docet.
Lou Haltinner spielt Armela und Barry eis, Bene Greiner Armin und Barry zwöi, Stéphane Maeder den Berg und Barry drü, alle angeleitet und klug im Raum verteilt von Amelie von Godin, der Regisseurin. Umgeben von Drahtgitter, sitzt das Publikum mit im Zwinger. – Etwas kindisch, weil überillustrativ, mutet es an, dass Kristin Buddenberg, die für Ausstattung und Sounddesign zeichnet, beim Niedergang der Lawine nicht auf die Geisterbahneffekte Bühnennebel, Donner und Lichtausfall verzichtet. An dieser Stelle zeigt sich wieder einmal die Wahrheit des alten Satzes: Weniger ist (bzw. wäre) mehr.
Irritierend zudem, dass in den "Schimmernden Schluchten" der 32-jährigen Anäis Clerc die Stimme des Bergs mit Hall untermischt aus den Lautsprechern kommt. Vor drei Jahren war sie auf gleiche Weise schon einmal zu hören, im Stück mit dem Titel "Adern" der heute dreissigjährigen Dramatikerin Lisa Wentz, das am Burgtheater zur Uraufführung kam. Womit ist die Koinzidenz zu erklären? Mit schwesterlicher Resonanz, Plagiat oder Zeitgeist? À éclaircir.
Der Umstand hindert indessen nicht, dass das wohlverfugte kleine Stück von 1 Stunde 15 mit seiner wirksamen Konstruktion und seinem hohen Identifikationspotential die Berner Zuschauer erreicht. Am Ende kehren sie angeregt und wohl unterhalten in die gar nicht so schimmernden Schluchten ihres flachen Alltags zurück.
Mal Mensch ...
... mal Tier.