Bemerkenswert ungezungenes Benehmen. 

 

 

Eugen Onegin. Pjotr Iljitsch Tschaikowsky.
Oper.

Anna Sułkowska-Migoń, Árpád Schilling, Juli Balázs, Axel Aust, Craig Davidson, Zsolt Czetner. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 20. Januar 2025.

 

> Wenn man sich vor Augen hält, dass der Komponist schwul war und deshalb seine Liebesgefühle unterdrücken musste ... dann lässt die legendäre Briefszene, in der die blutjunge, keusche Tatjana ihre Verehrung für den hochattraktiven, weitgereisten Onegin unverschleiert ausspricht, jede Konventionalität hinter sich zurück. Tschaikowsky gibt im Sichverströmen der Sängerin seinem eigenen Herzen Laut, er exponiert sich. Die durchaus gute Berner Aufführung ragt indessen nicht in diese Dimension hinein. Sie bleibt auf dem Boden. Auch da sind alle Leistungen beachtlich – Chor, Solisten, Orchester, Bühnenbild, Regie. Aber etwas fehlt: die geniale Morbidität, die im 19. Jahrhundert schwule, unglückliche, gefährdete Künstler wie Pjotr Iljitsch Tschaikowsky umwob. <

 

Das Bühnenbild (Juli Balázs) macht mehr als die halbe Miete. Und wenn dann noch die Kostüme dazukommen (Axel Aust), ist die Partie gewonnen. Man blickt – jetzt zum zweiten Mal in dieser Spielzeit (voran ging "Arabella") – in ein üppig wucherndes, raumfüllendes Grün. Festliches Licht (Bernhard Bieri) umkost die unzähligen Blätter und Ranken mit silbernen Reflexen. Der bewegte Chor, geführt vom Choreografen Craig Davidson und vom Chorleiter Zsolt Czetner, verbreitet mit ungezwungenem Benehmen und farbigen Kleidern Natürlichkeit, Ausgelassenheit und Festfreude.

 

Der Trubel zieht die träumerisch veranlagte Tatjana mit in den Rausch, und nachdem der betörende Fremde aufgetaucht ist, der als Eugen Onegin vorgestellt wird, zersprengt es ihr das Herz. Verity Wingate erfasst die blaubestrumpfte Seele des introvertierten Mauerblümchens mit anrührender Wahrheit. Die Darstellung lässt von Anfang an spüren, dass es sich hier um eine verborgene Perle handelt. Onegins Augen aber gehen erst auf, nachdem er sie im Palais eines angesehenen Fürsten in der ihr gebührenden Fassung erblickt. Da möchte er die verpasste Liebe nachholen.

 

Jonathan McGovern gibt die Titelrolle anständig, erfüllt aber das Profil stimmlich und darstellerisch nicht zur Gänze. Im Unterschied zu Claude Eichenberger als Larina geht von ihm kein Fluidum aus, das ihn für die Menschen in der Handlung und im Zuschauerraum zum unabweisbaren Mittelpunkt macht.

 

Dafür hat der Darsteller von Lenski Statur. Dem psychologisch in allen Rollen überzeugenden Michał Prószyński erlaubt es die Handlung, verschiedene Farben zu zeigen, und sein warmer, biegsamer Tenor setzt die Partie in faszinierenden Abstufungen ans Licht. Gleich beachtlich, wenn auch, typenbedingt, von einfacherem Zuschnitt, ist die Interpretation von Christian Valle als Fürst Gremin, Evgenia Asanova als Olga und Jordanka Milkova als Filipjewna.

 

Das Berner Symphonieorchester spielt, dass es eine Freude ist: Alle Gruppen kompakt, sicher und in den solistischen Partien sehr gepflegt. Dass es gern zu laut wird und das Forte-Pedal zu oft und über viel zu lange Strecken gedrückt hält, geht aufs Konto der Dirigentin Anna Sułkowska-Migoń. Nach ihrem Einstand wird sie nun die Zügel punkto Dynamik stärker anziehen und dafür der Agogik mehr Lauf lassen müssen.

 

Wenn an dieser Stelle die Kritik schon zuendekommt, ist das dem Umstand geschuldet, dass "Eugen Onegin" in Bern so anständig und untadelig ausfiel. Da liegt, für die Moderne, der Wurm. Charles-Augustin Sainte-Beuve hat das um 1850 in einer Fussnote zu seinem grossen religionsgeschicht­lichen Werk "Port Royal" am Beispiel der Literatur ausgeführt:  

 

Früher, in der Literaturepoche des Regelmässigen, die klassische genannt, galt als bester Dichter, wer das perfekteste, schönste Gedicht geschaffen hatte, das klarste, das angenehmste zum Lesen, das vollendetste in jeder Hinsicht, die "Aeneis" [Vergil], "Jerusalem" [Tasso], eine schöne Tragödie. Heute will man anderes. Der grösste Dichter ist für uns, wer in seinen Werken dem Leser am meisten zu imaginieren und zu träumen gab, wer ihn am meisten anspornte, selber zu poetisieren. Der grösste Dichter ist nicht, wer es am besten gemacht hat: es ist, wer am meisten suggeriert, bei dem man anfänglich nicht recht weiss, was er hat sagen und ausdrücken wollen, der uns viel zu wünschen übriglässt, zu erklären, zu grübeln, viel selber zu vollenden.

 

Wenn man "Le Lutrin" oder "Athalie" gelesen hat, wurde der Geist erholt oder erhoben; man hat ein nobles oder feines Vergnügen genossen; doch alles ist gesagt, vollendet, fertig, unverrückbar; und dann ... gibt es hier nichts Rätselhaftes; alles erscheint recht flach.

 

So auch im konkreten Fall. Dem Berner "Onegin" fehlt die geniale Morbidität, die im 19. Jahrhundert schwule, unglückliche, gefährdete Künstler wie Pjotr Iljitsch Tschaikowsky umwob.

Die ländliche Unschuld. 

Die herzliche Liebe. 

Die harte Trennung. 

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