Theater in Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. Januar 2025.
* Tu connais la chanson? (UA)
Chansonabend.
Charlotte Adrian. Théâtre Le Funambule Montmartre, Paris.
> Ein Abend für Insider. Seit dem Aufstieg des Front National ist der Begriff "français de souche" nicht mehr korrekt. Doch wer das französische Chanson nicht in der Wiege kennenlernte, kann mit der Boutiquen-Produktion des Funambule Montmartre wenig anfangen. Die Kinder und Ausländer langweilen sich. Die Insider aber reagieren mit Dankbarkeit auf die Begegnung mit ihrem immateriellen Kulturerbe. <
Die Vorstellung dauert anderthalb Stunden, gleich lang wie eine Doppellektion an der Schule. Der Lehrer heisst Louis Caratini. Singend kommt er mit der Gitarre herein und nimmt mit den Dasitzenden Beziehung auf: Wer erkennt welches Lied wieder? Wie heisst der Komponist? Der Textdichter? Der Interpret?
Wie in der Singstunde wird die Klasse, pardon, das Publikum, aufgefordert mitzumachen: Den Arm aufstrecken. Reden, wenn man aufgerufen wird. Klatschen. Aufstehen. Zum Rhythmus eines Liedes Rumpf und Arme bewegen. Den Refrain mitsprechen, bei geteiltem Saal: linke Hälfte, rechte Hälfte.
Im Unterschied zur Schule, wo es immer ein paar Oppositionelle gibt, sind im kleinen, intimen Theater alle Anwesenden wohlgelaunt und aufmerksam (mit Ausnahme der Kinder und Ausländer). Brav befolgen sie die Aufforderung, sich nach links und rechts zu wenden und die Nachbarn zu grüssen.
Die vierte Wand fehlt. Louis Caratini klettert über die Sitze ins Publikum. Er trägt einen knielangen schwarzen Rock. Das graue Holzfällerhemd ist offen. Es zeigt ein schwarzes Unterhemd und eine behaarte Männerbrust. Die nackten Beine stecken in weissen Sneakers. Das Kostüm erinnert an Nemos Auftritt am Eurovision Song Contest.
Louis Caratini hat zwar kein Lehrer-, aber ein Schauspielerdiplom. Zusammen mit seiner Regisseurin Charlotte Adrian baut er eine wohlverfugte Doppelstunde mit einer Leitfrage (Woher kommt die Inspiration für ein Chanson?), Wechsel der Methoden (Publikumsansprache, Kulturgeschichtsinputs, Wettbewerb, Dialog), Wechsel der Lehrmittel (Klavier, Gitarre, Spielzeugpiano), Wechsel der Körperhaltung (sitzen, liegen, hüpfen), Wechsel von Licht und Atmosphäre.
Am Schluss mündet der Abend in ein magistrales Resümee. Wer am meisten Punkte gesammelt hat, darf Louis Caratini ein Wort zurufen. Er prägt sich die verschiedenen Begriffe ein, setzt sich ans Klavier und beginnt zu präludieren. Ein Chanson entsteht, bei dem die Stichworte in ihrer exakten Reihenfolge wiedererscheinen – eingebaut in eine Melodie und gereimte Verse. Das letzte Wort war "vaisselle" (Geschirr). Es reimt sich auf "querelle" (Streit). Die Kombination inspiriert Caratini zum Vorsatz, beim Geschirrwaschen nicht mehr zu streiten. Der Kreis schliesst sich: Du kennst das Lied. "Tu connais la chanson."
Vor den 120 Sitzen des Théâtre Le Funambule spielt Louis Caratini seine Vorstellung von Mittwoch bis Sonntag täglich zwischen dem 14. November 2024 und dem 2. Februar 2025. Daneben betreibt er Schreibwerkstätten im Gefängnis und leitet Chöre für Alleinstehende und Kinder.
*** Le Soulier de satin. Paul Claudel.
Schauspiel.
Éric Ruf, Christian Lacroix. Comédie-Française.
> Mit dem breit angelegten Geschichtsgemälde "Le Soulier de satin" ist Paul Claudel fürs Schauspiel das, was Richard Wagner für die Oper. Seine Stücke, schreibt Wikipedia, "verfasste er in einer pathetisch-lyrischen Sprache und unter Verzicht auf eine spannende Handlung". Ungekürzt dauert die Aufführung elf Stunden. An der Comédie-Française braucht die Fassung des Hausherrn Eric Ruf sieben Stunden. Der "administrateur général" zeichnet auch für Inszenierung und Bühnenbild, und das traditionsreiche Haus, dessen Gründung auf Ludwig XIV. zurückgeht, führt dabei vor, wo seine Einmaligkeit liegt. <
Die Riesenbühne der Comédie-Française wird durch einen Laufsteg in den Zuschauerraum hinein verlängert. Wenn die historischen Personen ins Spiel kommen, die Paul Claudel für den "Soulier de satin" verwendet (der König von Spanien, sein Kanzler, der Vizekönig der beiden Amerika, der Vizekönig von Neapel, die Herrscherin von Mogador), dann marschieren die erlesensten Schuhe und Stiefel in Augenhöhe am Parkettpublikum vorbei. Die Gewerke des altehrwürdigen Théâtre national wissen, wie die Ideen des Bühnenbildners Christian Lacroix für die Fussbekleidung umzusetzen sind, bis hinunter zu den ledernen Schnürsenkeln, Absätzen, Sohlen – und den Falten, die sich beim Tragen bilden.
Aus der Schneiderei kommen die goldbestickten Vesten und Röcke mit kostbaren, kleinteiligen Mustern. Die Holzstäbe fürs geschiente Bein zeigen eine Patina, wie sie sich aus langem Gebrauch ergibt. Die Kleidung der Vornehmen mit ihren zahlreichen Ösen, Riemen und Schlaufen erfordert die Hände geschickter Garderobieren, damit sie korrekt an den Leib kommen und vor dem Zuschauerauge bestehen.
Die Maskenbildnerei verwandelt die zwanzig Gesichter der Truppe, die in der Inszenierung auftreten, in 39 distinkte Persönlichkeiten, und darüberhinaus noch in Soldaten, Offiziere, Diener, Herren, Höflinge, Minister. Da das Stück eine Periode von zwanzig Jahren umfasst, werden die Gesichter der Protagonisten auch von Glückswechseln und Alterungsvorgängen gezeichnet.
Auf dieser Basis entfaltet sich das Handwerk der Truppe. Im Dienst am Text macht sie vor, wie man eine deklamatorische Passage gestaltet: mit Pausen, Verzögerungen, Veränderungen des Tonfalls und des Gefühlsausdrucks. Die Vorbildlichkeit erstreckt sich auch aufs Stehen, Gehen, Zuhören und blosse Dabeisein. Immer sind die Darsteller in der Rolle und Situation. Die jüngere deutsche Theaterkritik schmäht diesen Stil als "Schauspielertheater" und nennt ihn veraltet.
In der Tat muss man bis zum Burgtheater der 1970er Jahre zurückgehen, um im deutschen Sprachraum ein Schauspielertheater von vergleichbarem Rang zu finden. Es galt schon damals als überholt. Denn mit dem Aufkommen des Regietheaters haben sich die traditionellen Regelungen, wie man etwas anpackt und "richtig" vorführt, bei den Schauspielaufführungen verändert.
Doch da die Geschichte gern dialektisch verläuft, zogen zur gleichen Zeit die historisch gewordenen Usancen ins progressive musikalische Schaffen um, wo sie sich unter dem Namen "historische Aufführungspraxis" – heute: "historisch informierte Aufführungspraxis" – durchsetzten. Wie die Regietheaterpioniere wurden indes die Adepten der strengen Lektüre des Kompositionstexts anfangs verlacht. In Frankreich nannte man sie "les baroqueux".
Es ist nicht zu bestreiten, dass der Vorbildlichkeit oft etwas Äusserliches anhaftet. Das Publikum merkt das daran, dass es "davor" steht, aber nicht "hinein" kommt. Es empfindet zwar Bewunderung für Leistung und Technik, doch keine Ergriffenheit. Das ist heute vielfach bei der Oper der Fall. Und an der Grenzlinie zwischen Oper und Schauspiel verlief bis in die Nullerjahre auch der Unterschied zwischen deutschem und französischem Theaterstil. Anders gesagt: Das klassische französische Schauspiel hatte etwas Opernhaftes.
Als die spätere Grande Dame der Zürcher Theaterkritik Elisabeth Brock-Sulzer in ihrer Studienzeit an der Comédie-Française "Phèdre" besuchte – oh, das ist jetzt auch schon ein Jahrhundert her – und vom Monolog der Hauptdarstellerin bis ins Innerste aufgewühlt wurde, hörte sie bei aufprasselndem Szenenapplaus ihre Nachbarin ("eine kleine Midinette") sagen: "Tiens, c'était bien dit."
Und dieses "bien dit" ist auch der vorherrschende Eindruck beim ersten Teil des "Soulier de satin". Doch damit ist erst ein Viertel der Vorstellung vergangen. Es folgen noch fünfeinhalb Stunden. Und je weiter die Handlung vorschreitet, um so tiefer kommen der Dichter, die Schauspieler und die Zuschauer in die Sache hinein. Der Verlauf prägt sie. Am deutlichsten und, ja, am ergreifendsten bei den Hauptdarstellern, die über die ganze Aufführungsdauer nur eine einzige Gestalt verkörpern. Maria Hands, Baptiste Chabauty und Christophe Montenez machen sichtbar, wie Glückswechsel und Alterungsvorgänge einen Menschen zeichnen. Ihr Schicksal legt sich wie eine eiserne Klammer aufs Gemüt. Um sich davon zu befreien, muss man mit der Metro ein paar Stationen weit fahren. Doch immer noch begleitet einen die Erinnerung an ein aussergewöhnliches Theaterereignis.
GABI. Apolline Delagarde. (UA)
Schauspiel.
Apolline Delagarde. Compagnie La Nuit surprise par le jour, Manufacture des Abbesses, Paris.
> Mit 26 Jahren hat Apolline Delagarde das Studium vor dem Abschluss hingeschmissen. Anstatt ein Diplom zu erwerben, folgte sie der Überzeugung, sie müsse sich durch das Theater verwirklichen. Sie sei geboren zum Stückeschreiben, zum Inszenieren und zum Spielen. Und das hat sie geschafft: Ihre erste Kreation steht zwischen Anfang Dezember 2024 und Mitte Februar 2025 auf dem Spielplan der Manufacture des Abbesses, Paris. Elf Abende vor je fünfzig Zuschauern. Ist das der Durchbruch? <
Wie bei der "Mappe meines Urgrossvaters" von Adalbert Stifter behauptet Apolline Delagarde, ihr sei beim Aufräumen ein vergessenes Konvolut in die Hände gefallen: das Tagebuch, das sie mit 13 Jahren geführt habe.
Jetzt zeigt die Bühne den Konflikt der Heranwachsenden mit der Familie. Und wie bei den Vereinstheateraufführungen landauf, landab führt ein Tisch die Beteiligten zusammen.
Vater, Mutter, Bruder und Schwester bewegen über leeren Blechtellern Messer und Gabel, und zuweilen führen sie einen leeren, durchsichtigen Plastikbecher an die Lippen. Sie spielen drückende Familienatmosphäre.
Der Vater ist grob und frustriert, wie eben grobe, frustrierte Unterschichtsväter sind; die Mutter beschwichtigend und beflissen, wie bekümmerte Mütter so werden; der durch Dyslexie behinderte Sohn in sich gekehrt, wie das zu seiner Diagnose gehört; und die Tochter voller Empörung, wie das ihrem Alter entspricht.
Aufs Mal erträgt das Mädchen die ewig gleichen Sätze nicht länger. Es braust auf, fegt die Mahlzeit vom Tisch und rennt davon. Black-out. Aus dem Off vernimmt man das Kreischen bremsender Autoreifen und die Sirene eines Rettungswagens.
Als das Licht wieder angeht, liegt eine Gestalt unter einer Folie (wohl die Darstellerin der Tochter). Die Restfamilie steht stumm um sie herum. Dem Vater entwindet sich ein Klagelaut, der sich zu einer rhythmisch hervorgestossen Melodie verwandelt: "Ich bin ein Rockstar!"
Während sich der Mann das Hemd vom Leib reisst und verzückt zu tanzen beginnt, wechseln Frau und Sohn das Kostüm: Sie wird Nonne, er Pfleger. Mit dieser Botschaft endet nach fünfzig Minuten die Aufführung: Werdet zur Liebe fähig! Lehnt euch auf! Verwirklicht euren Traum!
Ist das der Durchbruch?
Eher nein – wenn die Kunst darin besteht, anderes als Autobiografisches zu bringen.
Eher nein – wenn die Kunst darin besteht, Figuren durch Individualisierung lebendig zu machen.
Eher nein – wenn die Kunst darin besteht, aus einer Konstellation Handlung zu entwickeln.
Eher nein – wenn die Kunst darin besteht, im Dialog Menschen, Probleme und Lagen von verschiedenen Seiten her zu beleuchten.
Eher nein – wenn die Kunst darin besteht, aus der Darstellung eines Konflikts Spannung aufzubauen.
Wenn diese Feststellungen schliesslich in die Frage münden: "Lässt sich aus dem Probestück eine Prognose ziehen für das Weiterkommen von Apolline Delagarde als Autorin, Regisseurin und/oder Schauspielerin?", dann lautet die Antwort zur Stunde: "Eher nein."
** Re Chicchinella. Giambattista Basile.
Schauspiel.
Emma Dante. Compagnia Sud Costa Occidentale. Théâtre national de La Colline, Paris.
> Das Théâtre national de La Colline ist bis zum letzten Platz besetzt, obwohl im Stück nicht französisch gesprochen wird, sondern neapolitanisch. Aber es gibt Übertitel: bequem lesbar für die Presseleute in der oberen Hälfte des Saals; für die untere Hälfte ist die Schrift zu hoch angebracht. Doch auch die Unteren verstehen, worum es geht. Denn das Spektakel verwirklicht ein Märchen. Und das erreicht jeden. <
Eine Stunde dauert das entzückende Divertissement. Es zeigt das neapolitanische Märchen vom König, der ein Huhn war (Re Chicchinella). Der Verfasser Giambattista Basile (1566–1632) beeinflusste mit seinen Erzählungen vom Froschkönig, Aschenbrödel, Schneewittchen, Rapunzel und gestiefelten Kater Charles Perrault, Clemens Brentano, Ludwig Tieck, die Brüder Grimm und Hans Christian Andersen, also die Crème der nachfolgenden Märchendichter.
Beim "Re Chicchinella" ist das Huhn, das goldene Eier legt, in den Anus des Königs geschlüpft. Darum knien jetzt die Höflinge vor dem erlauchten Hintern Ihrer Majestät und warten auf die Defäkation. Für sie gibt es nichts Kostbareres als die, nun ja, goldene Scheisse des Staatsoberhaupts. Mit der Zeit ergibt es sich, dass Huhn und König eins sind, und so zeigt das End' von der Geschicht': An der Spitze der Macht thront ein Huhn, umgeben von Schranzen.
Die sizilianische Autorin und Theaterregisseurin Emma Dante hat das zynische Märchen für die Bühne bearbeitet. Sie zeichnet für Text, Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme. Zur Premiere kam die Produktion am 8. März 2024 im Piccolo Teatro di Milano. Anschliessend reiste sie nach Neapel, Venedig, Lyon, Toulon, Montpellier und Paris.
Mit einem Personal, das aus König, Königin, Prinzessin, Hofdamen, Pagen, Dienern und Leibarzt besteht, ist der Stil der Auftritte "naturgegeben" (wenn man so sagen kann) zeremoniös. Die Gesten haben mal was vom Tanz, mal was von der Commedia dell'arte, mal was von der neapolitanischen Volkskomödie. Die Menschen aber zeigen keine Autonomie; nur Kriecherei und Verstellung.
Die Äusserlichkeit eines durch Etikette geregelten Lebens hat an sich schon etwas Theatralisches. Also braucht ihm Emma Dante nur einen leichten Schubs zu geben, damit das Hofzeremoniell in Kunst übergeht, wo – wie im klassischen Ballett – die Schönheit aus der Gemessenheit erwächst. Doch beim "Re Chicchinella" zeigt sich auch, dass in imperialen und faschistischen Regimes die Schönheit eine Larve des Bösen ist. Demgemäss zitiert der Programmzettel Emma Dantes These:
Wenn mich jemand fragen würde, wo die Finte und der Betrug zu finden sind, wüsste ich keinen anderen Ort zu nennen als diesen Hof, wo Sie sich hinter Ihren Masken verstecken.
So vergnüglich das Divertissement daherkommt – in Wirklichkeit ist "Re Chicchinella" der Prüfstein für die Freiheitlichkeit einer Regierungsform. Oder möchte jemand behaupten, die Aufführung habe eine Chance, als Gastspiel nach Washington, Moskau, Peking, Budapest, Riad, Teheran oder Pjönjang eingeladen zu werden? Das wäre ein wahres Märchen im Sinne der Brüder Grimm. "Der Froschkönig" beginnt mit den Worten: "In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat ..."
Ici sont les dragons. (UA)
Schauspiel.
Théâtre du Soleil, Paris.
> Das selbstverwaltete Stück. Es sieht auf den ersten Blick grossartig aus. Doch je länger es dauert, desto schlechter funktioniert es – gleich wie die Sowjetunion, deren Entstehung die Truppe auf der Bühne des Théâtre du Soleil nachzeichnet. Der Abend umreisst die Geschehnisse von 1916 bis 1918. Dramaturgisch betrachtet, hat die Vorstellung den Charakter einer Exposition: Das Publikum wird mit der Zeit und den Umständen bekanntgemacht, aus denen Putin und der aktuelle Ukrainekrieg hervorwachsen werden. Doch das liegt jenseits des Berichtshorizonts. Die Aufführung bricht ab, nachdem sich die Bolschewiken der Revolution bemächtigt haben. <
In der Belle Epoque, als es noch kein Radio, kein Fernsehen, kein Internet und kein Streaming gab, suchten die Menschen Rotunden auf, in denen sie gegen ein mässiges Eintrittsgeld Einblick bekamen, wie die Welt anderswo beschaffen war. Die Panoramen (so hiessen die gemalten Darstellungen) brachten reizende oder bedeutende Szenerien naturgetreu vors Auge der städtischen Bevölkerung. Oft wurde das unermessliche Häusergewirr von Konstantinopel abgebildet. Das Wocher-Panorama in Thun zeigte die Dächer der Stadt vor Aare, See und Alpen. Das Bourbaki-Panorama hielt den Grenzübertritt der russischen Truppen 1871 im tiefverschneiten Les Verrières fest.
In Berlin brachte das Kaiser-Panorama den Luxus, dass sich die Betrachter nicht vor dem Bild zu bewegen brauchten, sondern dass die Bilder an den Sitzenden vorbeizogen. Walter Benjamin hat das beschrieben:
Es war ein grosser Reiz der Reisebilder, die man im Kaiserpanorama fand, dass gleichviel galt, bei welchem man die Runde anfing. Denn weil die Schauwand mit den Sitzgelegenheiten davor im Kreis verlief, passierte jedes sämtliche Stationen, von denen man durch je ein Fensterpaar in seine schwachgetönte Ferne sah.
Nun zieht eine solche Bilderfolge in Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil vor den Zuschauern vorbei. Sie erblicken die geschichtlichen Stationen
– 24. Februar 1917 auf auf einer Brücke in St. Petersburg,
– 25. Februar 1917 in der Stavaka, dem Hauptquartier des russischen Kaisers,
– 28. Februar bis 3. März 1917 im Taurischen Palais in St. Petersburg,
– März 1917 an der französischen Weltkriegsfront ...
Paradoxerweise beantwortet das Theater durch diese Darstellung die Dynamik der Geschichte mit Statik. Nicht gut. Die Gesichter der Figuren sind starr. Die Darsteller tragen Masken: Lenin, Stalin, Churchill. Ihre Stimmen kommen aus dem Lautsprecher. Sie gestikulieren mit dem grossen, pathetischen Ausdruck, den die Fotoaufnahmen aus jener Zeit überliefern. Und das Play-back verstärkt den Eindruck, den Georg Büchner vom Studium der französischen Revolution festhielt: "Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!"
Was die Personen sagen, ist quellenmässig belegt. Doch dieses Vorgehen führt zu einer Verdoppelung der Statik: Vor einem stehenden Bild ertönen Sätze, die an Versammlungen protokolliert, in Briefen ausgedrückt oder in Zeitungsartikeln formuliert wurden. Damit zeigt das "grand spectacle populaire" seine Figuren vornehmlich in Rede-, Schreib- oder Lesepose, und Bewegung entsteht erst bei den logistisch ausgetüftelten Bildwechseln, für welche die Truppe im Sturmschritt über die Bühne fegt.
Es ist augenscheinlich: Der "création collective dirigée par Ariane Mnouchkine" fehlte ein Friedrich (Schiller), ein Heinrich (von Kleist), ein Franz (Grillparzer) oder ein Friedrich (Dürrenmatt), kurz: ein Dichter von Williams Gnaden, dem es gelingt, Stoffmassen dergestalt zu organisieren, dass Spannung, Farbe, Rhythmus das Publikum in Bann schlagen und zu einer Erkenntnis führen.
In der vorliegenden Form ist die Produktion nicht viel mehr als eine beflissene Doku. Aber es handelt sich auch erst um eine Exposition (première époque). Zur Frage, wie es weitergeht, steht aber, leider, Friedrich Dürrenmatts Menetekel im Raum: "Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat." Die Geschichte, die das Théâtre du Soleil 1916 einsetzen lässt, führt am 24. November 2022 zur russischen Spezialoperation. Von da an zerfällt die Weltordnung.
*** Une Leçon de Piano avec Chopin. Pascal Amoyel. (UA)
Spectacle musical.
Christian Froment, Philippe Séon. Théâtre Le Ranelagh, Paris.
> Das Théâtre Le Ranelagh in Paris hat heute dreihundert Plätze. 1894 aber wurde es im Stil der flämischen Neorenaissance für den Automobilindustriellen Louis Mors als privater Musiksalon erbaut. Mit seiner Kassettendecke und den geschnitzten Wänden aus dunklem Eichenholz steht es seit fünfzig Jahren unter Denkmalschutz. In diesem atmosphärisch und akustisch aussergewöhnlichen Gehäuse ist nun die Stimme Chopins zu hören: als Komponist, Lehrer und Freund. <
Auf der Bühne des Théâtre Le Ranelagh erzählt Pascal Amoyel seinen Werdegang als Pianist. Als Kind begann er zu spielen, ohne die Noten zu kennen. Das merkte er aber erst, als ihm Chopins Ballade Nr. 1 op. 23 geschenkt wurde: Er konnte das Gedruckte nicht entziffern. Das Versagen in frühen Jahren (ein Fressen für die Psychoanalytiker, sagt Amoyel augenzwinkernd) machte für den Pianisten Chopin zum Ausgangspunkt der Entwicklung. Der Anfänger wollte den polnischen Komponisten nicht nur spielen, sondern richtig spielen. Mit diesem Wunsch plagte er sich und die Klavierlehrer, bis ihm einer den Unterricht aufkündigte: "Für die Auskunft, die du verlangst, musst du dich an einen Schüler Chopins wenden."
Nun wusste auch der Junge, dass Chopin und seine Schüler längst gestorben waren. Aber er brachte den Grossvater dazu, mit ihm die Musikbibliotheken von Paris aufzusuchen, und dort wurden sie fündig: Die Schüler hatten Aufzeichnungen hinterlassen. In einem Buch des Pianisten Alfred Cortot waren sogar zehn Tafeln aus Chopins Hand reproduziert, in denen der Meister Anleitung zum richtigen Klavierspiel gegeben hatte. Im Lauf der Erzählung nimmt Pascal Amoyel eine um die andere hervor und modifiziert die Interpretation nach ihren Anweisungen. Daraus erwächst "une leçon de piano avec Chopin".
Aus dem Jenseits blickt das Genie dem Schüler über die Schulter. Pascal Amoyel vernimmt seine Stimme. Sie führt den jungen Klavierspieler Schritt um Schritt zu einem reifen Verständnis der Musik. Hier geht es nicht um Leistung, nicht um Technik, nicht um Ruhm, sondern um Unverstelltheit, Atem, Leben – damit das Unaussprechliche von Natur und Seele zum Erklingen komme.
Zurückhaltend in Szene gesetzt von Christian Froment, führt der Abend unter der subtilen Beleuchtung von Philippe Séon immer tiefer in den pulsierenden Kern von Chopins Inventionen. Längst haben Bühne, Flügel und Interpret für das Zuschauerauge an Bedeutung verloren, als der Meister die Anweisung gibt: "Wenn du das Stück ganz beherrschst, musst du es im Finstern spielen." Daraufhin geht das Licht aus. Jetzt ist nur noch er da, der grosse Verletzliche, mit seinem Nocturne op. 48 Nr. 1, im kostbaren Gehäuse des Théâtre Le Ranelagh. Wie aber die Vorstellung aus ist und sich der Pianist für den Applaus verbeugt, ruft eine Stimme: "Merci!"
Offenbach & les trois empereurs. Christophe Barbier. (UA)
Spectacle Musical.
Christophe Barbier. Théâtre de Poche-Montparnasse, Paris.
> Offenbach zieht. Am Ende einer Serie von zwei Monaten mit je sechs Aufführungen pro Woche ist das Théâtre de Poche-Montparnasse voll bis zum letzten Platz. Auf roten, schmalen Bänken sitzen die Leute Schulter an Schulter, Hüfte an Hüfte, Oberschenkel an Oberschenkel. Sie gehören zur Generation der Boomer und sind alle weit über siebzig. Nach jeder Nummer rühren sie die Hände. Dabei gibt es in Wirklichkeit nichts zu beklatschen, sondern nur zu betrauern: Wo sind die Jahre, wo ich noch Jüngling war in lockigem Haar? <
An der Vorstellung im Keller des Boulevard du Montparnasse 75 lässt sich erkennen, auf welchem handwerklichen Sockel Offenbach seine Erfolge gezimmert hat. Nötig ist zuerst einmal ein wendiges, spielfreudiges Orchester, in dem sich die Mitglieder solistisch bewegen, um die Noten mit Salz und Pfeffer zu würzen. Für diesen Stil hat Offenbach auf seine Erfahrungen als Cellist im Orchester der Opéra-Comique zurückgreifen können. Ein Klavier aber vermag weder die Farben noch die Dynamik der Instrumente zu ersetzen, selbst wenn Vadim Sher auf die Tasten schlägt. Der Teppich für Pauline Courtins Gesangsstimme fehlt.
Die Sopranistin ist auch nicht eingebettet in eine Gruppe von Solisten, welche mit ihr im Duett, Terzett oder Quartett interagieren; und selbstverständlich ist sie auch nicht umgeben von einem Ensemble von Chor und Tänzern, welche die Effekte aufnehmen, verstärken und fortsetzen; auch wird sie nicht getragen von einem Dekor mit raffinierten Bild- und Kostümwechseln; nicht vorangetrieben durch eine Handlung mit vielen Mit- und Gegenspielern. In Gestalt eines Skeletts aber fehlen nun Offenbachs Nummern Charme, Biss und Schmiss.
Um die bekanntesten Lieder Revue passieren zu lassen, hat Christophe Barbier den Abend als Gesangsprobe angelegt. Im Café Anglais soll sich Hortense Schneider, die Primadonnna Offenbachs, im Rahmen der Pariser Weltausstellung 1867 auf einen Auftritt vor den drei Staatsoberhäuptern Napoleon III., Alexander II. und Wilhelm I. vorbereiten. Der Autor und Regisseur des Abends spielt selbst den Komponisten. Glaubwürdig ist er zwar nicht, aber in seiner beflissenen Art sympathisch – wie auch die beiden andern Spieler in den beeengten Verhältnissen des Kellertheaters.
Für das Publikum der Boomer 70+ wecken die Melodien Erinnerungen an Jérôme Savarys rauschende Kreationen zwischen 1970 und 1990 im Théâtre du Châtelet, im Théâtre de la Gaité, im Théâtre des Champs-Élysées und an der Opéra-Comique. Jetzt verfolgen die Alten die Mini-Aufführung mit nach innen gewendetem Blick, und in der gestrigen Spielweise finden sie einen Nachhall an die Zeit, wo ihnen noch die Locken natürlich auf die Schultern fielen. Und jetzt! Wo sind die Jahre?
Le Firmament. Lucy Kirkwood.
Schauspiel.
Chloé Dabert, Pierre Nouvel, Marie La Rocca, Nicolas Marie. Théâtre du Rond-Point, Paris.
> Wieder ein Geschworenenstück. In "The Welkin" (Das Himmelsgewölbe) von Lucy Kirkwood geht es wieder einmal darum, wer was wann in einem abgeschlossenen Raum sagt oder tut, um das Drama zum Abschluss zu bringen. Diesmal handelt es sich um das Todesurteil an einer Frau. Die zwölf Geschworenen sind ebenfalls Frauen. Aber wie sich im Lauf von 2 Stunden 40 Minuten zeigt, benehmen sich die Frauen nicht wesentlich anders als Männer. Und vor allem: nicht humaner. <
Dass die zwölf Geschworenen der sog. Matronenjury (jury of matrons) von Hass, Lüge, Starrsinn und Voreingenommenheit angetrieben werden, wohingegen unverstellte Wahrnehmung, Nachdenklichkeit, Differenzierungsvermögen und Empathie rare Artikel sind, liegt, Lucy Kirkwoods Stückkonzept zufolge, an den zeitgeschichtlichen Umständen.
De Handlung ist in einem englischen Provinznest des Jahres 1759 angesiedelt. Da herrschen Härte, Dummheit, Aberglaube. Die Menschen arbeiten im Schweiss ihres Angesichts ums täglich' Brot. Sie leben in Verhältnissen, wie sie Georg Büchner im "Hessischen Landboten" beschrieben hat:
Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am 5ten Tage, und die Fürsten und Vornehmen am 6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: Herrschet über alles Getier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt. Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn und lässt ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiss ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen.
Die unheilige Dreifaltigkeit von Feudalismus, Kapitalismus und Patriarchat spaltet die Gesellschaft in Obere und Untere, Bevorzugte und Benachteiligte, Ausbeuter und Ausgebeutete. "Ich bin geboren in der Gemeinde Unverstand, in einem Jahre, welches man nicht zählte nach Christus", schrieb Jeremias Gotthelf im "Bauernspiegel". Die Verurteilte und die zwölf Frauen, welche die Matronenjury bilden, leben in einer solchen Welt.
Regisseurin Chloé Dabert indes zeigt sie in supercleanen Hochglanzabbildungen. Und mit dieser Darstellungsweise begeht sie Verrat an der Vorlage. Wie in einem Vermeer-Interieur erscheinen die Figuren malerisch im Raum. Die sauberen Kostüme (Marie La Rocca) kommen aus dem Trachtenmuseum. Das Licht (Nicolas Marie) schafft eine pastellfarbene Atmosphäre, aus der bloss das Gekreisch der zankenden Matronen grell hervorsticht. Zwischendurch wirft Bühnenbildner Pierre Nouvel geleckte Filmeinsprengsel auf eine bühnengrosse Leinwand, und das Pressedossier nennt diesen aufgedonnerten Stil "version magnifiée".
Von den dreizehn Schauspielerinnen (zwölf Geschworene, eine Verurteilte) können nur sechs einwandfrei sprechen; darunter die Beschuldigte (Andréa El Azan) und die Doyenne (aus einer Generation, wo Diktion noch geschätzt wurde). Das Pressedossier nennt das "une distribution féminine hors pair". Mit dieser Vollmundigkeit bestätigt die Produktion im Théâtre du Rond-Point die Erwartung, die sich in Publikum und Kritik einstellt, wenn das Stück einer britischen Erfolgsschriftstellerin (auteure britannique à succès) angekündigt wird. In Wirklichkeit aber liegen ganze Lichtjahre zwischen Lucy Kirkwoods kolportagehaftem "Himmelsgewölbe" und Heinrich von Kleists abgründiger Gerichtssaalkomödie mit Adam und Evchen im "Zerbrochenen Krug".
*** Au Bonheur des Dames. Emile Zola. (UA)
Einfrauenstück.
Pascale Bouillon. Le Guichet Montparnasse, Paris.
> Emile Zola hat in jeder Beziehung Riesengrösse. Aber Pascale Bouillon, die seinen Warenhaus- und Kapitalismusroman "Au Bonheur des Dames" fürs Theater bearbeitet hat und jetzt drei Monate lang auf der Flohbühne des Guichet Montparnasse vorträgt, ist ihm gewachsen. Das macht ihre fast zweistündige Eigeninszenierung zum Ereignis. <
Als Emile Zola mit dem ersten Band der "Rougon-Macquart" debütierte, gratulierte ihm Gustave Flaubert postwendend. Der Verfasser der "Madame Bovary" hatte "La Fortune des Rougon" verschlungen, ohne abzusetzen:
Ich habe gerade Ihr grauenhaftes und schönes Buch beendet! Mir ist immer noch schwindelig. Es ist stark! Sehr stark!
Ich tadle nur das Vorwort. Meiner Meinung nach verdirbt es Ihr Werk, das so unparteiisch und hoch ist. Sie verraten darin Ihr Geheimnis, was zu kindlich ist und was in meiner Poetik einem Romanautor nicht erlaubt ist.
Flauberts Warnung kam zu spät. Die Milch war verschüttet, und der Missgriff wirkte weiter bis auf den heutigen Tag. Immer noch ist Emile Zola reduziert aufs Etikett "Schriftsteller des Naturalismus". Dabei liegt seine Kunst ganz woanders. Aber die Leute halten sich ans Greifbare, das heisst: an den Inhalt. Das beklagte schon Goethe:
Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazuzutun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten.
Das "Geheimnis" von Zolas Kunst liegt in der ausserordentlichen Gewandtheit, "Stoff" zu organisieren. In "La Faute de l'Abbé Mouret" besteht der erste Teil – immerhin hundert Seiten – aus einem einzigen Tag: vom Dämmern des Morgens bis in die Tiefe der Nacht. In diesen Zeitrahmen werden alle Personen hineinverwoben, ihre Verhältnisse, ihre Vorgeschichte, ihre Eigenart. – Dazu beherrscht Zola die Kunst, Menschen mit wenigen Strichen lebendig zu machen: Man sieht sie vor sich; man hört sie reden; man hat eine genaue Vorstellung von ihnen und kann sie verstehen.
Mit dieser Fähigkeit hat der Gott der Künste nun – bezogen auf den Bereich des Theaters – auch Pascale Bouillon begabt. Es gelingt ihr, den "Stoff" von 416 Buchseiten auf knappe zwei Theaterstunden zu reduzieren, ohne dem Ganzen zu schaden. Für das figurenreiche Stück, das in der Welt eines Kaufhauses spielt, schlüpft sie sekundenschnell in eine Haltung und einen Tonfall, und schon ist der Mensch da: etwa die tuschelnde kleine Verkäuferin, die mit breitem Grinsen und blitzenden Augen eine Konkurrentin heruntermacht. Sie stützt den Ellbogen auf den Tresen, das Kinn in die Hand, und unter dem Verkaufstisch kreuzt sie die Beine, so dass vom linken Fuss nur die Zehen den Boden berühren. Im Haar trägt sie ein weisses Häubchen. Jetzt nimmt sie eine braune Mütze vom Haken und bewegt sie energisch. Der Inspektor ist gekommen und erinnert an die Personalordnung: Verkäuferinnen dürfen nicht schwatzen!
"Den Stoff sieht jedermann vor sich", sagte Goethe. In Pascale Bouillons Theater besteht der "Stoff" vornehmlich aus Hutstoff. Jede Person hat ihre eigene Kopfbedeckung. Es genügt, die eine aufzusetzen und eine andere in die Hand zu nehmen, damit ein Dialog entsteht.
Das "Geheimnis" der erzählerischen Eleganz und szenischen Wirksamkeit liegt darin, dass das Einfrauenstück die Er-Form durch die Ich-Form ersetzt hat. Aus dieser Perspektive verfolgt das Publikum die Ankunft der kleinen Denise Baudu aus der Provinz bis zu ihrer Heirat mit dem Pariser Warenhauskönig. Pascale Bouillon braucht nicht zu schildern, wie es dazu kommt. Sie stellt es dar.
Die Schauspielerin macht das mit der gleichen Liebe, mit der sich der Autor seinen Menschen, Verhältnissen und Dingen zuwendet. So durchläuft Pascale Bouillon auf der Flohbühne des Guichet Montparnasse die Entwicklung einer jungen Frau mit stupender Authentizität. – Zola:
Ich will sie mager, schüchtern, eingeschnürt, leicht verdattert, zerknittert; dann, nach und nach, entwickle ich sie mitten in der Eleganz des Ladens; sie macht etwas aus sich; schliesslich kommt ihr Charakter ans Licht: gesetzt, klug, pragmatisch.
Das Herz von Denise Baudu erreicht nicht nur ihren Chef Octave Mouret, sondern auch die Zuschauer. Mit Wärme und Menschlichkeit macht Pascale Bouillon aus dem grossen Roman einen schönen, reichen, beglückenden Abend.