GABI. Apolline Delagarde. (UA)

Schauspiel.

Apolline Delagarde. Compagnie La Nuit surprise par le jour, Manufacture des Abbesses, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. Januar 2025.

 

> Mit 26 Jahren hat Apolline Delagarde das Studium vor dem Abschluss hingeschmissen. Anstatt ein Diplom zu erwerben, folgte sie der Überzeugung, sie müsse sich durch das Theater verwirklichen. Sie sei geboren zum Stückeschreiben, zum Inszenieren und zum Spielen. Und das hat sie geschafft: Ihre erste Kreation steht zwischen Anfang Dezember 2024 und Mitte Februar 2025 auf dem Spielplan der Manufacture des Abbesses, Paris. Elf Abende vor je fünfzig Zuschauern. Ist das der Durchbruch? <

 

Wie bei der "Mappe meines Urgrossvaters" von Adalbert Stifter behauptet Apolline Delagarde, ihr sei beim Aufräumen ein vergessenes Konvolut in die Hände gefallen: das Tagebuch, das sie mit 13 Jahren geführt habe.

 

Jetzt zeigt die Bühne den Konflikt der Heranwachsenden mit der Familie. Und wie bei den Vereinstheateraufführungen landauf, landab führt ein Tisch die Beteiligten zusammen.

 

Vater, Mutter, Bruder und Schwester bewegen über leeren Blechtellern Messer und Gabel, und zuweilen führen sie einen leeren, durchsichtigen Plastikbecher an die Lippen. Sie spielen drückende Familienatmosphäre.

 

Der Vater ist grob und frustriert, wie eben grobe, frustrierte Unterschichtsväter sind; die Mutter beschwichtigend und beflissen, wie bekümmerte Mütter so werden; der durch Dyslexie behinderte Sohn in sich gekehrt, wie das zu seiner Diagnose gehört; und die Tochter voller Empörung, wie das ihrem Alter entspricht.

 

Aufs Mal erträgt das Mädchen die ewig gleichen Sätze nicht länger. Es braust auf, fegt die Mahlzeit vom Tisch und rennt davon. Black-out. Aus dem Off vernimmt man das Kreischen bremsender Autoreifen und die Sirene eines Rettungswagens.

 

Als das Licht wieder angeht, liegt eine Gestalt unter einer Folie (wohl die Darstellerin der Tochter). Die Restfamilie steht stumm um sie herum. Dem Vater entwindet sich ein Klagelaut, der sich zu einer rhythmisch hervorgestossen Melodie verwandelt: "Ich bin ein Rockstar!"

 

Während sich der Mann das Hemd vom Leib reisst und verzückt zu tanzen beginnt, wechseln Frau und Sohn das Kostüm: Sie wird Nonne, er Pfleger. Mit dieser Botschaft endet nach fünfzig Minuten die Aufführung: Werdet zur Liebe fähig! Lehnt euch auf! Verwirklicht euren Traum!

 

Ist das der Durchbruch?

 

Eher nein – wenn die Kunst darin besteht, anderes als Autobiografisches zu bringen.

 

Eher nein – wenn die Kunst darin besteht, Figuren durch Individualisierung lebendig zu machen.

 

Eher nein – wenn die Kunst darin besteht, aus einer Konstellation Handlung zu entwickeln.

 

Eher nein – wenn die Kunst darin besteht, im Dialog Menschen, Probleme und Lagen von verschiedenen Seiten her zu beleuchten.

 

Eher nein – wenn die Kunst darin besteht, aus der Darstellung eines Konflikts Spannung aufzubauen.

 

Wenn diese Feststellungen schliesslich in die Frage münden: "Lässt sich aus dem Probestück eine Prognose ziehen für das Weiterkommen von Apolline Delagarde als Autorin, Regisseurin und/oder Schauspielerin?", dann lautet die Antwort zur Stunde: "Eher nein."

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