Ici sont les dragons.
Schauspiel.
Théâtre du Soleil, Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. Januar 2025.
> Das selbstverwaltete Stück. Es sieht auf den ersten Blick grossartig aus. Doch je länger es dauert, desto schlechter funktioniert es – gleich wie die Sowjetunion, deren Entstehung die Truppe auf der Bühne des Théâtre du Soleil nachzeichnet. Der Abend umreisst die Geschehnisse von 1916 bis 1918. Dramaturgisch betrachtet, hat die Vorstellung den Charakter einer Exposition: Das Publikum wird mit der Zeit und den Umständen bekanntgemacht, aus denen Putin und der aktuelle Ukrainekrieg hervorwachsen werden. Doch das liegt jenseits des Berichtshorizonts. Die Aufführung bricht ab, nachdem sich die Bolschewiken der Revolution bemächtigt haben. <
In der Belle Epoque, als es noch kein Radio, kein Fernsehen, kein Internet und kein Streaming gab, suchten die Menschen Rotunden auf, in denen sie gegen ein mässiges Eintrittsgeld Einblick bekamen, wie die Welt anderswo beschaffen war. Die Panoramen (so hiessen die gemalten Darstellungen) brachten reizende oder bedeutende Szenerien naturgetreu vors Auge der städtischen Bevölkerung. Oft wurde das unermessliche Häusergewirr von Konstantinopel abgebildet. Das Wocher-Panorama in Thun zeigte die Dächer der Stadt vor Aare, See und Alpen. Das Bourbaki-Panorama hielt den Grenzübertritt der russischen Truppen 1871 im tiefverschneiten Les Verrières fest.
In Berlin brachte das Kaiser-Panorama den Luxus, dass sich die Betrachter nicht vor dem Bild zu bewegen brauchten, sondern dass die Bilder an den Sitzenden vorbeizogen. Walter Benjamin hat das beschrieben:
Es war ein grosser Reiz der Reisebilder, die man im Kaiserpanorama fand, dass gleichviel galt, bei welchem man die Runde anfing. Denn weil die Schauwand mit den Sitzgelegenheiten davor im Kreis verlief, passierte jedes sämtliche Stationen, von denen man durch je ein Fensterpaar in seine schwachgetönte Ferne sah.
Nun zieht eine solche Bilderfolge in Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil vor den Zuschauern vorbei. Sie erblicken die geschichtlichen Stationen
– 24. Februar 1917 auf auf einer Brücke in St. Petersburg,
– 25. Februar 1917 in der Stavaka, dem Hauptquartier des russischen Kaisers,
– 28. Februar bis 3. März 1917 im Taurischen Palais in St. Petersburg,
– März 1917 an der französischen Weltkriegsfront ...
Paradoxerweise beantwortet das Theater durch diese Darstellung die Dynamik der Geschichte mit Statik. Nicht gut. Die Gesichter der Figuren sind starr. Die Darsteller tragen Masken: Lenin, Stalin, Churchill. Ihre Stimmen kommen aus dem Lautsprecher. Sie gestikulieren mit dem grossen, pathetischen Ausdruck, den die Fotoaufnahmen aus jener Zeit überliefern. Und das Play-back verstärkt den Eindruck, den Georg Büchner vom Studium der französischen Revolution festhielt: "Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!"
Was die Personen sagen, ist quellenmässig belegt. Doch dieses Vorgehen führt zu einer Verdoppelung der Statik: Vor einem stehenden Bild ertönen Sätze, die an Versammlungen protokolliert, in Briefen ausgedrückt oder in Zeitungsartikeln formuliert wurden. Damit zeigt das "grand spectacle populaire" seine Figuren vornehmlich in Rede-, Schreib- oder Lesepose, und Bewegung entsteht erst bei den logistisch ausgetüftelten Bildwechseln, für welche die Truppe im Sturmschritt über die Bühne fegt.
Es ist augenscheinlich: Der "création collective dirigée par Ariane Mnouchkine" fehlte ein Friedrich (Schiller), ein Heinrich (von Kleist), ein Franz (Grillparzer) oder ein Friedrich (Dürrenmatt), kurz: ein Dichter von Williams Gnaden, dem es gelingt, Stoffmassen dergestalt zu organisieren, dass Spannung, Farbe, Rhythmus das Publikum in Bann schlagen und zu einer Erkenntnis führen.
In der vorliegenden Form ist die Produktion nicht viel mehr als eine beflissene Doku. Aber es handelt sich auch erst um eine Exposition (première époque). Zur Frage, wie es weitergeht, steht aber, leider, Friedrich Dürrenmatts Menetekel im Raum: "Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat." Die Geschichte, die das Théâtre du Soleil 1916 einsetzen lässt, führt am 24. November 2022 zur russischen Spezialoperation. Von da an zerfällt die Weltordnung.
Hunger.
Versprechen.
Unruhen.