Im Warenhausrayon. © Bénédicte Karyotis.

 
 

 

Au Bonheur des Dames. Emile Zola.

Einfrauenstück.

Pascale Bouillon. Le Guichet Montparnasse, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. Januar 2025.

 

> Emile Zola hat in jeder Beziehung Riesengrösse. Aber Pascale Bouillon, die seinen Warenhaus- und Kapitalismusroman "Au Bonheur des Dames" fürs Theater bearbeitet hat und jetzt drei Monate lang auf der Flohbühne des Guichet Montparnasse vorträgt, ist ihm gewachsen. Das macht ihre fast zweistündige Eigeninszenierung zum Ereignis. <

 

Als Emile Zola mit dem ersten Band der "Rougon-Macquart" debütierte, gratulierte ihm Gustave Flaubert postwendend. Der Verfasser der "Madame Bovary" hatte "La Fortune des Rougon" verschlungen, ohne abzusetzen:

 

Ich habe gerade Ihr grauenhaftes und schönes Buch beendet! Mir ist immer noch schwindelig. Es ist stark! Sehr stark!

 

Ich tadle nur das Vorwort. Meiner Meinung nach verdirbt es Ihr Werk, das so unparteiisch und hoch ist. Sie verraten darin Ihr Geheimnis, was zu kindlich ist und was in meiner Poetik einem Romanautor nicht erlaubt ist.

 

Flauberts Warnung kam zu spät. Die Milch war verschüttet, und der Missgriff wirkte weiter bis auf den heutigen Tag. Immer noch ist Emile Zola reduziert aufs Etikett "Schriftsteller des Naturalismus". Dabei liegt seine Kunst ganz woanders. Aber die Leute halten sich ans Greifbare, das heisst: an den Inhalt. Das beklagte schon Goethe:

 

Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazuzutun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten.

 

Das "Geheimnis" von Zolas Kunst liegt in der ausserordentlichen Gewandtheit, "Stoff" zu organisieren. In "La Faute de l'Abbé Mouret" besteht der erste Teil – immerhin hundert Seiten – aus einem einzigen Tag: vom Dämmern des Morgens bis in die Tiefe der Nacht. In diesen Zeitrahmen werden alle Personen hineinverwoben, ihre Verhältnisse, ihre Vorgeschichte, ihre Eigenart. – Dazu beherrscht Zola die Kunst, Menschen mit wenigen Strichen lebendig zu machen: Man sieht sie vor sich; man hört sie reden; man hat eine genaue Vorstellung von ihnen und kann sie verstehen.

 

Mit dieser Fähigkeit hat der Gott der Künste nun – bezogen auf den Bereich des Theaters – auch Pascale Bouillon begabt. Es gelingt ihr, den "Stoff" von 416 Buchseiten auf knappe zwei Theaterstunden zu reduzieren, ohne dem Ganzen zu schaden. Für das figurenreiche Stück, das in der Welt eines Kaufhauses spielt, schlüpft sie sekundenschnell in eine Haltung und einen Tonfall, und schon ist der Mensch da: etwa die tuschelnde kleine Verkäuferin, die mit breitem Grinsen und blitzenden Augen eine Konkurrentin heruntermacht. Sie stützt den Ellbogen auf den Tresen, das Kinn in die Hand, und unter dem Verkaufstisch kreuzt sie die Beine, so dass vom linken Fuss nur die Zehen den Boden berühren. Im Haar trägt sie ein weisses Häubchen. Jetzt nimmt sie eine braune Mütze vom Haken und bewegt sie energisch. Der Inspektor ist gekommen und erinnert an die Personalordnung: Verkäuferinnen dürfen nicht schwatzen!

 

"Den Stoff sieht jedermann vor sich", sagte Goethe. In Pascale Bouillons Theater besteht der "Stoff" vornehmlich aus Hutstoff. Jede Person hat ihre eigene Kopfbedeckung. Es genügt, die eine aufzusetzen und eine andere in die Hand zu nehmen, damit ein Dialog entsteht.

 

Das "Geheimnis" der erzählerischen Eleganz und szenischen Wirksamkeit liegt darin, dass das Einfrauenstück die Er-Form durch die Ich-Form ersetzt hat. Aus dieser Perspektive verfolgt das Publikum die Ankunft der kleinen Denise Baudu aus der Provinz bis zu ihrer Heirat mit dem Pariser Warenhauskönig. Pascale Bouillon braucht nicht zu schildern, wie es dazu kommt. Sie stellt es dar.

 

Die Schauspielerin macht das mit der gleichen Liebe, mit der sich der Autor seinen Menschen, Verhältnissen und Dingen zuwendet. So durchläuft Pascale Bouillon auf der Flohbühne des Guichet Montparnasse die Entwicklung einer jungen Frau mit stupender Authentizität. – Zola:

 

Ich will sie mager, schüchtern, eingeschnürt, leicht verdattert, zerknittert; dann, nach und nach, entwickle ich sie mitten in der Eleganz des Ladens; sie macht etwas aus sich; schliesslich kommt ihr Charakter ans Licht: gesetzt, klug, pragmatisch.

 

Das Herz von Denise Baudu erreicht nicht nur ihren Chef Octave Mouret, sondern auch die Zuschauer. Mit Wärme und Menschlichkeit macht Pascale Bouillon aus dem grossen Roman einen schönen, reichen, beglückenden Abend.

Der Hut ... 

... macht den Mann ... 

... und die Frauen.

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