Re Chicchinella. Giambattista Basile.
Schauspiel.
Emma Dante. Compagnia Sud Costa Occidentale. Théâtre national de La Colline, Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. Januar 2025.
> Das Théâtre national de La Colline ist bis zum letzten Platz besetzt, obwohl im Stück nicht französisch gesprochen wird, sondern neapolitanisch. Aber es gibt Übertitel: bequem lesbar für die Presseleute in der oberen Hälfte des Saals; für die untere Hälfte ist die Schrift zu hoch angebracht. Doch auch die Unteren verstehen, worum es geht. Denn das Spektakel verwirklicht ein Märchen. Und das erreicht jeden. <
Eine Stunde dauert das entzückende Divertissement. Es zeigt das neapolitanische Märchen vom König, der ein Huhn war (Re Chicchinella). Der Verfasser Giambattista Basile (1566–1632) beeinflusste mit seinen Erzählungen vom Froschkönig, Aschenbrödel, Schneewittchen, Rapunzel und gestiefelten Kater Charles Perrault, Clemens Brentano, Ludwig Tieck, die Brüder Grimm und Hans Christian Andersen, also die Crème der nachfolgenden Märchendichter.
Beim "Re Chicchinella" ist das Huhn, das goldene Eier legt, in den Anus des Königs geschlüpft. Darum knien jetzt die Höflinge vor dem erlauchten Hintern Ihrer Majestät und warten auf die Defäkation. Für sie gibt es nichts Kostbareres als die, nun ja, goldene Scheisse des Staatsoberhaupts. Mit der Zeit ergibt es sich, dass Huhn und König eins sind, und so zeigt das End' von der Geschicht': An der Spitze der Macht thront ein Huhn, umgeben von Schranzen.
Die sizilianische Autorin und Theaterregisseurin Emma Dante hat das zynische Märchen für die Bühne bearbeitet. Sie zeichnet für Text, Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme. Zur Premiere kam die Produktion am 8. März 2024 im Piccolo Teatro di Milano. Anschliessend reiste sie nach Neapel, Venedig, Lyon, Toulon, Montpellier und Paris.
Mit einem Personal, das aus König, Königin, Prinzessin, Hofdamen, Pagen, Dienern und Leibarzt besteht, ist der Stil der Auftritte "naturgegeben" (wenn man so sagen kann) zeremoniös. Die Gesten haben mal was vom Tanz, mal was von der Commedia dell'arte, mal was von der neapolitanischen Volkskomödie. Die Menschen aber zeigen keine Autonomie; nur Kriecherei und Verstellung.
Die Äusserlichkeit eines durch Etikette geregelten Lebens hat an sich schon etwas Theatralisches. Also braucht ihm Emma Dante nur einen leichten Schubs zu geben, damit das Hofzeremoniell in Kunst übergeht, wo – wie im klassischen Ballett – die Schönheit aus der Gemessenheit erwächst. Doch beim "Re Chicchinella" zeigt sich auch, dass in imperialen und faschistischen Regimes die Schönheit eine Larve des Bösen ist. Demgemäss zitiert der Programmzettel Emma Dantes These:
Wenn mich jemand fragen würde, wo die Finte und der Betrug zu finden sind, wüsste ich keinen anderen Ort zu nennen als diesen Hof, wo Sie sich hinter Ihren Masken verstecken.
So vergnüglich das Divertissement daherkommt – in Wirklichkeit ist "Re Chicchinella" der Prüfstein für die Freiheitlichkeit einer Regierungsform. Oder möchte jemand behaupten, die Aufführung habe eine Chance, als Gastspiel nach Washington, Moskau, Peking, Budapest, Riad, Teheran oder Pjönjang eingeladen zu werden? Das wäre ein wahres Märchen im Sinne der Brüder Grimm. "Der Froschkönig" beginnt mit den Worten: "In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat ..."
Der Monarch ...
... mit den Pagen ...
... und seinem Hof.