Tu connais la chanson?
Chansonabend.
Charlotte Adrian. Théâtre Le Funambule Montmartre, Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. Januar 2025.
> Ein Abend für Insider. Seit dem Aufstieg des Front National ist der Begriff "français de souche" nicht mehr korrekt. Doch wer das französische Chanson nicht in der Wiege kennenlernte, kann mit der Boutiquen-Produktion des Funambule Montmartre wenig anfangen. Die Kinder und Ausländer langweilen sich. Die Insider aber reagieren mit Dankbarkeit auf die Begegnung mit ihrem immateriellen Kulturerbe. <
Die Vorstellung dauert anderthalb Stunden, gleich lang wie eine Doppellektion an der Schule. Der Lehrer heisst Louis Caratini. Singend kommt er mit der Gitarre herein und nimmt mit den Dasitzenden Beziehung auf: Wer erkennt welches Lied wieder? Wie heisst der Komponist? Der Textdichter? Der Interpret?
Wie in der Singstunde wird die Klasse, pardon, das Publikum, aufgefordert mitzumachen: Den Arm aufstrecken. Reden, wenn man aufgerufen wird. Klatschen. Aufstehen. Zum Rhythmus eines Liedes Rumpf und Arme bewegen. Den Refrain mitsprechen, bei geteiltem Saal: linke Hälfte, rechte Hälfte.
Im Unterschied zur Schule, wo es immer ein paar Oppositionelle gibt, sind im kleinen, intimen Theater alle Anwesenden wohlgelaunt und aufmerksam (mit Ausnahme der Kinder und Ausländer). Brav befolgen sie die Aufforderung, sich nach links und rechts zu wenden und die Nachbarn zu grüssen.
Die vierte Wand fehlt. Louis Caratini klettert über die Sitze ins Publikum. Er trägt einen knielangen schwarzen Rock. Das graue Holzfällerhemd ist offen. Es zeigt ein schwarzes Unterhemd und eine behaarte Männerbrust. Die nackten Beine stecken in weissen Sneakers. Das Kostüm erinnert an Nemos Auftritt am Eurovision Song Contest.
Louis Caratini hat zwar kein Lehrer-, aber ein Schauspielerdiplom. Zusammen mit seiner Regisseurin Charlotte Adrian baut er eine wohlverfugte Doppelstunde mit einer Leitfrage (Woher kommt die Inspiration für ein Chanson?), Wechsel der Methoden (Publikumsansprache, Kulturgeschichtsinputs, Wettbewerb, Dialog), Wechsel der Lehrmittel (Klavier, Gitarre, Spielzeugpiano), Wechsel der Körperhaltung (sitzen, liegen, hüpfen), Wechsel von Licht und Atmosphäre.
Am Schluss mündet der Abend in ein magistrales Resümee. Wer am meisten Punkte gesammelt hat, darf Louis Caratini ein Wort zurufen. Er prägt sich die verschiedenen Begriffe ein, setzt sich ans Klavier und beginnt zu präludieren. Ein Chanson entsteht, bei dem die Stichworte in ihrer exakten Reihenfolge wiedererscheinen – eingebaut in eine Melodie und gereimte Verse. Das letzte Wort war "vaisselle" (Geschirr). Es reimt sich auf "querelle" (Streit). Die Kombination inspiriert Caratini zum Vorsatz, beim Geschirrwaschen nicht mehr zu streiten. Der Kreis schliesst sich: Du kennst das Lied. "Tu connais la chanson."
Vor den 120 Sitzen des Théâtre Le Funambule spielt Louis Caratini seine Vorstellung von Mittwoch bis Sonntag täglich zwischen dem 14. November 2024 und dem 2. Februar 2025. Daneben betreibt er Schreibwerkstätten im Gefängnis und leitet Chöre für Alleinstehende und Kinder.
Louis Caratini mit Klavier.
Gitarre.
Gesang.