Ein Historiendrama eigener Prägung. © Jean-Louis Fernandez, coll. Comédie-Française.

 
 

 

Le Soulier de satin. Paul Claudel.

Schauspiel.

Éric Ruf, Christian Lacroix. Comédie-Française.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. Januar 2025.

 

> Mit dem breit angelegten Geschichtsgemälde "Le Soulier de satin" ist Paul Claudel fürs Schauspiel das, was Richard Wagner für die Oper. Seine Stücke, schreibt Wikipedia, "verfasste er in einer pathetisch-lyrischen Sprache und unter Verzicht auf eine spannende Handlung". Ungekürzt dauert die Aufführung elf Stunden. An der Comédie-Française braucht die Fassung des Hausherrn Eric Ruf sieben Stunden. Der "administrateur général" zeichnet auch für Inszenierung und Bühnenbild, und das traditionsreiche Haus, dessen Gründung auf Ludwig XIV. zurückgeht, führt dabei vor, wo seine Einmaligkeit liegt. <

 

Die Riesenbühne der Comédie-Française wird durch einen Laufsteg in den Zuschauerraum hinein verlängert. Wenn die historischen Personen ins Spiel kommen, die Paul Claudel für den "Soulier de satin" verwendet (der König von Spanien, sein Kanzler, der Vizekönig der beiden Amerika, der Vizekönig von Neapel, die Herrscherin von Mogador), dann marschieren die erlesensten Schuhe und Stiefel in Augenhöhe am Parkettpublikum vorbei. Die Gewerke des altehrwürdigen Théâtre national wissen, wie die Ideen des Bühnenbildners Christian Lacroix für die Fussbekleidung umzusetzen sind, bis hinunter zu den ledernen Schnürsenkeln, Absätzen, Sohlen – und den Falten, die sich beim Tragen bilden.

 

Aus der Schneiderei kommen die goldbestickten Vesten und Röcke mit kostbaren, kleinteiligen Mustern. Die Holzstäbe fürs geschiente Bein zeigen eine Patina, wie sie sich aus langem Gebrauch ergibt. Die Kleidung der Vornehmen mit ihren zahlreichen Ösen, Riemen und Schlaufen erfordert die Hände geschickter Garderobieren, damit sie korrekt an den Leib kommen und vor dem Zuschauerauge bestehen.

 

Die Maskenbildnerei verwandelt die zwanzig Gesichter der Truppe, die in der Inszenierung auftreten, in 39 distinkte Persönlichkeiten, und darüberhinaus noch in Soldaten, Offiziere, Diener, Herren, Höflinge, Minister. Da das Stück eine Periode von zwanzig Jahren umfasst, werden die Gesichter der Protagonisten auch von Glückswechseln und Alterungsvorgängen gezeichnet.

 

Auf dieser Basis entfaltet sich das Handwerk der Truppe. Im Dienst am Text macht sie vor, wie man eine deklamatorische Passage gestaltet: mit Pausen, Verzögerungen, Veränderungen des Tonfalls und des Gefühlsausdrucks. Die Vorbildlichkeit erstreckt sich auch aufs Stehen, Gehen, Zuhören und blosse Dabeisein. Immer sind die Darsteller in der Rolle und Situation. Die jüngere deutsche Theaterkritik schmäht diesen Stil als "Schauspielertheater" und nennt ihn veraltet.

 

In der Tat muss man bis zum Burgtheater der 1970er Jahre zurückgehen, um im deutschen Sprachraum ein Schauspielertheater von vergleichbarem Rang zu finden. Es galt schon damals als überholt. Denn mit dem Aufkommen des Regietheaters haben sich die traditionellen Regelungen, wie man etwas anpackt und "richtig" vorführt, bei den Schauspielaufführungen verändert.

 

Doch da die Geschichte gern dialektisch verläuft, zogen zur gleichen Zeit die historisch gewordenen Usancen ins progressive musikalische Schaffen um, wo sie sich unter dem Namen "historische Aufführungspraxis" – heute: "historisch informierte Aufführungspraxis" – durchsetzten. Wie die Regietheaterpioniere wurden indes die Adepten der strengen Lektüre des Kompositionstexts anfangs verlacht. In Frankreich nannte man sie "les baroqueux".

 

Es ist nicht zu bestreiten, dass der Vorbildlichkeit oft etwas Äusserliches anhaftet. Das Publikum merkt das daran, dass es "davor" steht, aber nicht "hinein" kommt. Es empfindet zwar Bewunderung für Leistung und Technik, doch keine Ergriffenheit. Das ist heute vielfach bei der Oper der Fall. Und an der Grenzlinie zwischen Oper und Schauspiel verlief bis in die Nullerjahre auch der Unterschied zwischen deutschem und französischem Theaterstil. Anders gesagt: Das klassische französische Schauspiel hatte etwas Opernhaftes.

 

Als die spätere Grande Dame der Zürcher Theaterkritik Elisabeth Brock-Sulzer in ihrer Studienzeit an der Comédie-Française "Phèdre" besuchte – oh, das ist jetzt auch schon ein Jahrhundert her – und vom Monolog der Hauptdarstellerin bis ins Innerste aufgewühlt wurde, hörte sie bei aufprasselndem Szenenapplaus ihre Nachbarin ("eine kleine Midinette") sagen: "Tiens, c'était bien dit."

 

Und dieses "bien dit" ist auch der vorherrschende Eindruck beim ersten Teil des "Soulier de satin". Doch damit ist erst ein Viertel der Vorstellung vergangen. Es folgen noch fünfeinhalb Stunden. Und je weiter die Handlung vorschreitet, um so tiefer kommen der Dichter, die Schauspieler und die Zuschauer in die Sache hinein. Der Verlauf prägt sie. Am deutlichsten und, ja, am ergreifendsten bei den Hauptdarstellern, die über die ganze Aufführungsdauer nur eine einzige Gestalt verkörpern. Maria Hands, Baptiste Chabauty und Christophe Montenez machen sichtbar, wie Glückswechsel und Alterungsvorgänge einen Menschen zeichnen. Ihr Schicksal legt sich wie eine eiserne Klammer aufs Gemüt. Um sich davon zu befreien, muss man mit der Metro ein paar Stationen weit fahren. Doch immer noch begleitet einen die Erinnerung an ein aussergewöhnliches Theaterereignis.

Die fürstliche Begegnung.

Das intime Gespräch. 

Das Hofmahl. 

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