Cabaret. John Kander.
Musical.
Iwan Wassilevski, Olivier Tambosi, Samuele D'Amico. Theater Orchester Biel Solothurn.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 20. Dezember 2024.
> David gegen Goliath. Biel ist nicht Berlin. Und das kleine Haus am Burgplatz ist nicht das Theater des Westens mit seinen 1600 Zuschauersitzen. In Biel/Solothurn sind die Mittel bescheiden und die Ausmasse gering: 280 Plätze. Hier "Cabaret" zu bringen, grenzt an Vermessenheit. Der normale Verstand möchte wetten, das müsse schiefgehen. Doch einmal im Saal, wird er berührt von einer intensiven, feinen und gescheiten Aufführung. Mit ihrer Distinktion spricht sie dem Zuschauer direkt ins Herz. Wahrhaftig, Mies von der Rohe hatte recht, wenn er seinen Schülern predigte: "Weniger ist mehr." Die kleinen Häuser am Jurasüdfuss liefern den Nachweis. <
Für die kondensierte Fassung von "Cabaret" ist die Akustik der Guckkastenbühnen am Rand des Aarelaufs ein reines Glück. Das Sinfonieorchester Biel Solothurn kann solistisch auftreten. Schlagzeug, Flöte, Akkordeon, Kontrabass und Klavier erscheinen schön und belebt. Mit sorgfältig ausgestalteten Läufen leiten sie die Szenen ein; schaffen den Boden für die Gesangsnummern; und markieren die Umschlagspunkte von Handlung und Atmosphäre. Iwan Wassilevski leitet die distinguierte Wiedergabe von John Kanders Partitur mit Feingefühl für Rhythmus und Dosierung. Ein Orchestersound der Extraklasse.
Mit gleicher Akkuratesse führt Regisseur Olivier Tambosi die Darsteller. Der millimetergenaue Feinschliff, mit dem er die Auftritte und Handlungen regelt, macht die kleinste Gebärde zum Abenteuer: Da ist das Zucken einer Wimper; das Schwenken einer Hüfte; das Schlenkern eines Beins; die Bewegung eines Arms; die Neigung eines Kopfs. Dazu kommt die abgestufte Vielfalt der Töne: der geheuchelte Schmiss; der elegische Klang der Resignation; das unterdrückte Schluchzen einer Kehle; die Herzenstöne des Aufbegehrens, der Zuneigung und der erwachenden Liebe. All das so nah und unmittelbar, als lägen Darsteller und Zuschauer miteinander im Boudoir. Den grossen Bühnen ist es verwehrt, eine solche Intimität herzustellen. Biel/Solothurn spielt sie aus.
Auf dieser Grundlage lässt die Aufführung Herz und Sinne des Publikums während fast drei Stunden nicht aus dem Griff. Christian Manuel Oliveira ist ein schöner, eleganter, einnehmender Conférencier. Er verfügt über viele Ausdrucksfarben und eine betörend warme Stimme. Wenn am Schluss Lichtgestalter Samuele D'Amico einen grauen Schleier über ihn legt, entsteht ein solches Bild der Hoffnungslosigkeit, dass man innerlich die Arme sinken lässt.
Die breiten, mitleiderregend verzerrten Mundwinkel, mit denen Roxanne Choux ihren letzten Song vorträgt, zeigen, wohin die Naziherrschaft geführt hat: in Jammer und Verzweiflung. Die Darstellerin der kessen, quirligen Sally Bowles, der einst umjubelten Hauptattraktion des Kit Kat Klubs, wurde vom Lauf der Geschichte gnadenlos dekonstruiert.
Auch der agile, in der Ausstrahlung grundehrliche amerikanische Romancier Cliff Bradshaw, verkörpert von Fabian Netos-Claus, ist am Schluss gezeichnet. Im Unterschied zu den andern, die sagten, Politik langweile sie, hat er "Mein Kampf" gelesen und verstanden, was auf Deutschland und die Welt zukommt. Wer aber in Berlin blieb wie das kämpferische Fräulein Schneider (Christiane Boesiger), der warmherzige Herr Schultz (Christoph Wettstein) und die vergnügungshungrigen Mitglieder des Kit Kat Klubs, landet in der Vernichtung (Camilla Gomes dos Santos, Kathrin Elmiger, Nora von Bergen, Wolf Latzel).
Seid wachsam, sagt die Inszenierung durch zwei subtile, aber äusserst dekuvrierende Momente. Das erste Mal, als der Conférencier mit animierender Gebärde das Publikum auffordert, zum Rhythmus der Musik zu klatschen. Die gutwilligen Zuschauer unterziehen sich der Forderung ohne Widerstand. Aber siehe da: Der Takt, den die Zuschauerhände begleitet haben, mündet in den Marschtritt der Wehrmacht.
"Lass dich nicht dumm machen!", warnte der Reiseschriftsteller und jüdische Emigrant Richard Katz in seinen Erinnerungen. Und Bertolt Brecht, sein Zeitgenosse, schrieb (den klatschenden "Cabaret"-Zuschauern zur Warnung):
Kälbermarsch
Hinter der Trommel her
Trotten die Kälber
Das Fell für die Trommel
Liefern sie selber.
Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen
Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt.
Die Kälber, deren Blut im Schlachthof schon geflossen
Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit.
Auf diese Weise zeigt die Aufführung in Biel/Solothurn, wie aus Mitklatschern Mitmarschierer werden. Das Publikum aber begreift die Lektion nicht. Unbelehrt tappt es vor der Pause erneut in die Falle. Die Aufführung mündet in eine heute gottseidank vergessene Nazihymne mit dem Lob des Lindenbaums, des deutschen Rheins und des deutschen Volks, vom Ensemble aus voller Kehle vorgetragen. Weil sich jetzt aber der Vorhang schliesst und das Licht ausgeht, beginnen alle Anwesenden, wie es sich von Alters her gehört, zu klatschen. Und ohne dass sie es merkten, hat sie die Konvention dazu geführt, sich für den Vortrag eines nationalsozialistischen Liedes zu bedanken. Doch in der Pause hat niemand ein schlechtes Gewissen. So stumpf sind die Menschen wie wir.
Am Schluss führt die Inszenierung auf die Güterrampe von Auschwitz. Unheimlich, wie das Ensemble zuerst die Hüte niederlegt, dann die Schuhe, Jacken, Hosen, Hemden, bis die nackten Körper nebeneinanderstehen. Die Show ist aus. Tiefe Betroffenheit senkt sich auf die Anwesenden nieder. Es vergehen einige Sekunden, bis ein lautes "Bravo!" den Beifall des Saales heraufbeschwört. Dann aber hört das Klatschen fast nicht mehr auf.
Sally Bowles und das Fräulein Schneider.
Auf Empfang für die Botschaft von oben.
Der Conférencier und die Animierdamen.