Der leere Traum vom erfüllten Leben. © Joel Schweizer.

 

 

Die Stühle. Eugène Ionesco.

Tragische Farce.

Deborah Epstein, Florian Barth. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. Dezember 2024.

 

> Das Schauspiel von Biel/Solothurn präsentiert "Die Stühle" in Luxusausgabe. Für das Zweipersonenstück genügt an sich ein Dutzend billiger Sessel und ein leerer Raum. In diesem Umfeld müssen's dann die Schauspieler machen, und sie allein. Jetzt aber kommt am Jurasüdfuss noch Video dazu. Klang. Musik. Verstärkung der Stimmen. Echo. Goldgirlanden. Lametta. Ein Podest. Roter Samt. Spiegelung des Zuschauerraums ... Zum Luxus passt, dass das Spiel der Figuren ausgedehnt und vergrössert wird. Ist ja auch nicht verboten, nennt sich das Stück doch "Farce". Die Frage ist bloss: Ist "mehr" wirklich mehr? Oder nicht eher weniger? Jeder vorsichtige Esser weiss: Wenn das Salz mal drin ist, kann man es nicht mehr herausnehmen. Dann löffelt man die Suppe höflich aus und sagt zu den Gastgebern: "Danke, es war gut." So auch diesmal. <

 

Im Hintergrund fliessen majestätische Vorhänge auf einen roten Teppichboden herab. Sie dienen als Projektionsfläche für die bühnenbreite Abbildung anrollender Meereswellen. Eugène Ionescos tragische Farce spielt auf einer Insel. Ein uraltes Paar (er 95, sie 94) bewegt sich mühsam unter einem goldfarbenen Lüster. Fenster sieht man keine. Irgendwie erinnert der Raum an eine weich ausgepolsterte Schmuckschatulle – oder eine Tobsuchtszelle. Mit dieser Darstellungsform hat Florian Barth eine Kippfigur auf die Bühne gestellt.

 

Die Schmuckschatulle entspricht dem Traum des uralten Paars, durch einen letzten Schlag noch Reichtum, Bedeutsamkeit und Weltgeltung zu erringen, damit das Dasein nicht vergebens geblieben sei. In Wirklichkeit aber war die Alte bloss Hausfrau. Und der Gatte Versager:

 

Ich bin nur ein Hausmeister, ich habe viel erlitten ... Ich war Sammler aller Bankrotte, der Blitzableiter aller Katastrophen ... Um zu vergessen, wollte ich Sport treiben ... Bergsteigen ... in den Alpen ... man zog mich an den Füssen, damit ich stürzte.

 

Am Abend des Lebens drehen sich die Gedanken des Paars nicht um das Gegebene, sondern um das Unerreichte. Die Frau versichert ihrem Mann:

 

Bestimmt bist du ein grosser Gelehrter. Du hättest Chefpräsident werden können, Chefkönig oder gar Chefarzt oder Chefmarschall, wenn du gewollt hättest.

 

Anderseits zeigt die Kippfigur ein Irrenhaus mit ausgepolsterter Tobsuchtszelle. In ihrem Wahn hören die beiden Insassen die Hausglocke läuten, mal mit banalem Klingeln, mal mit vornehmen Gongtönen, und immer hastiger schleppen sie für die herbeiströmenden Gäste, die nur sie sehen, Stühle ins Zimmer.

 

Am Ende gleiten an der Rückwand die Vorhänge auseinander und geben den Blick frei auf einen rotsamtenen Vorhang. Er öffnet sich seinerseits für den Auftritt des unsichtbaren Kaisers. Zu erkennen ist bloss die Spiegelung der Solothurner Rangbrüstungen. Damit realisiert sich in dieser Inszenierung das Theater als besondere Form von Suggestion.

 

Der Alte begrüsst die Majestät mit Schluchzen, Rührung und Ehrfurcht. Mit ihrem Eintritt hat er den Gipfel seiner Träume erreicht. Er kann abtreten. Mit der Frau zusammen stürzt er sich ins Meer.

 

Im Unterschied zur Vorlage, wo am Ende ein Taubstummer die hinterlassene Botschaft des Alten an die Tafel kritzelt, unter deren Zeichen lediglich das Wort "Adieu" entzifferbar ist, tritt in Biel/Solothurn ein sympathischer Junge im Surfanzug auf und spricht die beiden Wörter aus, die auf seinem Brett stehen: "Ange" und "Pain", zu deutsch: "Engel" und "Brot". Das ist die Botschaft der Jugend: Friede auf Erden und Nahrung für alle!

 

Auf dem Surfbrett sind zwei Engelsflügel und eine Baguette abgebildet, und der Kinderstatist ist grün: Grün wie das Brett für Spiel, Sport und Spass, grün wie die Jugend und grün wie die Hoffnung. So wendet Regisseurin Deborah Epstein den Ausgang der tragischen Farce ins Positive.

 

Für eine realistische Darstellung der Alten fehlt den bewährten Schauspielkräften Silke Geertz und Günther Baumann noch ein schönes paar Dutzend Jährchen. Aus diesem Grund sind sie veranlasst, auf steif, unbeholfen und halbsenil zu machen, ohne es zu sein.

 

Die Vergröberung und Vergrösserung des Spiels – ein oft verwendetes Mittel der Regisseurin, um die Künstlichkeit von Figuren und Situationen herauszustreichen – rückt die Handlung von den Zuschauern weg. Im Sinn kalter Verfremdung sind Geertz und Baumann wohl lesbar, aber nicht glaubwürdig.

 

So hat das Konzept seinen Preis. Es kostet die virtuose Selbstverständlichkeit, mit der alte Paare interagieren, und es bringt Zirkus anstelle von Realismus. Die Folge ist, dass das Publikum zwar viel sieht, aber wenig fühlt. Dem Ganzen fehlt die suggestive Dimension, die den Kern des Theaters ausmacht, und der Zuschauer kommt nicht zum Punkt, wo er sich zu fragen beginnt: Spinnen die oder spinne ich?

 

Mit diesem Manko bleibt die Luxusausgabe der "Stühle" an der Oberfläche. Sie realisiert nicht das Letzte, was aus der tragischen Farce herauszuholen wäre.

Das Irrenhaus ... 

... der Alten ... 

... und die Jugend. 

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