James Brown trug Lockenwickler. Yasmina Reza.
Schauspiel.
Bühnen Bern.
Stephan Kimmig, Sigi Colpe. Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 7. Dezember 2024.
> Das Mittelmass findet sich bei Yasmina Reza wieder. Sie schreibt Boulevard. Es gibt indessen welche, die korrigieren diese Feststellung gleich mit erhobenem Zeigefinger und rufen: "Gehobenes Boulevard, bitte!" Mit "gehoben" wollen sie zum Ausdruck bringen, dass in Rezas Stücken keine Betrunkenen vorkommen, keine schmutzigen Männerunterhosen, keine schlüpfrigen Affären und kein ausserehelicher Geschlechtsverkehr. Aber "gehoben" bedeutet auch, wie jeder Konfirmand weiss, ätzende Langeweile, zu der man eine respektvolle Miene aufsetzen muss. Genau diese "gehobene Unterhaltung" bietet nun das Berner Schauspiel an seiner Familien- und Festtagspremiere, und jedes woke Wesen wird die Aufführung zu loben haben; denn im Zentrum steht das Transgenderthema. Amen. <
Sobald die ersten Schauspieler auftreten, beginnt in der mittleren Reihe rechts aussen eine Lachdrossel anzuschlagen. Bei jedem vierten Satz, der im Stück fällt, produziert sie belustigte Laute. Im übrigen Zuschauerraum indes bleibt es still. Ohne eine Reaktion zu zeigen, sitzt das Publikum die Vorstellung ab, 1 Stunde 45 Minuten. Mit der Zeit verstummt die Lachdrossel, und von da an durchzieht kein Laut mehr die ergebene, zuweilen auch schläfrige Stille, in der sich die Aufführung von Yasmina Rezas Stück "James Brown trug Lockenwickler" als Schweizer Erstaufführung in den Berner Vidmarhallen vollzieht.
Zweimal erntet Claudius Körber Zwischenapplaus: Das erste Mal, nachdem er mit zartem Falsett ein Lied von Céline Dion ins Mikrofon gehaucht hat; das zweite Mal nach einer solistischen Tanznummer, in der er seine langen, schmalen Glieder rhythmisch aufreizend bewegte. Körber spielt den Sohn eines braven Ehepaars aus der unteren Mittelschicht irgendwo in der französischen Provinz. Als Kind begann sich Jacob mit der franko-kanadischen Popsängerin dermassen zu identifizieren, dass er am Schluss meinte, Céline selbst zu sein. So ereignete sich in ihm von früh auf eine Umwandlung der Vorstellungswelt, eine Umwandlung des Wirklichkeitssinns und eine Umwandlung der Genderidentität. Die Eltern (Isabelle Menke, Jan Maak) erkannten ihren Sohn nicht wieder. Da sie aber fanden, es müsse etwas gehen, brachten sie ihn auf Rat eines obskuren Energietherapeuten, der sich für den Fall nicht zuständig fühlte, in eine psychiatrische Klinik.
Da stolziert er jetzt mit blonden, schulterlangen, an der Spitze gekrausten Haaren und stattlichem Schnauz durch den Park. Er stellt sich vor, er befinde sich zur Erholung hier und werde gleich aufbrechen zu einer langen, anstrengenden Südamerikatournee. Die Eltern nicken eifrig. Sie wagen nicht, den Schlafwandler zu wecken, wenn sie ihn besuchen. Und als sie dem Freund des Sohnes (Kilian Land) begegnen, stellen sie fest, dass auch bei ihm Sein und Schein auseinanderfallen. Dem Vater entfährt die Feststellung: "Aber er ist ja gar nicht schwarz!" Und ob die Frau Doktor (Susanne-Marie Wrage), die wie der Springer auf dem Schachbrett zwangshaft von einem Feld aufs andere hüpft, alle Schrauben in der Tüte hat, ist schliesslich ein weiteres Rätsel.
Zusammengenommen realisiert Yasmina Rezas "James Brown trug Lockenwickler" das Thema aller Lustspiele: "Du kannst deinen Augen nicht trauen". Wenn aus diesem Grund nebenan im Stadttheater "Arabella", die lyrische Komödie von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, nicht in einem schäbigen Hotel spielt, sondern in einer unabsehbaren, üppig grünenden Wildnis, so läuft in den Vidmarhallen die Handlung nicht in einem Park mit Rasen und Bäumen, sondern auf einer blitzblank lackierten Kunststofffläche, auf der statt Bänken surreale Betonfragmente mit wuchtigen Metallelementen herumliegen (Bühne Sigi Colpe). Sein und Schein. "Pass auf!", sagt Stephan Kimmigs Inszenierung. "Du kannst deinen Augen nicht trauen!" Und damit wird die Schweizer Erstaufführung eines mittelmässigen Boulevardstücks zum Dokument eines interessanten zeitgeschichtlichen Kulturwandes.
Das Theater des Mittelalters bezog seine Komik aus der Darstellung körperlicher und geistiger Infirmitäten. Die Zuschauer lachten über den Idioten. Sie lachten über den Betrunkenen. Sie lachten über den Stotterer. Sie lachten über den Verblendeten und den Buckligen. Im Mittelalter war das Lachen im Theater ein Auslachen.
Doch der Prozess der Zivilisation führte zu Triebunterdrückung. Das Losprusten wurde unvornehm. Der Spott brauchte jetzt eine moralische Legitimation. Deshalb entstand die Sittenkomödie. In ihr verlachte man moralische Gebrechen wie Geiz, Überheblichkeit oder Hypochondrie. Die Gesellschaft sollte durchs Lachen verbessert werden, und das Theater wurde zur moralischen Anstalt.
Nach der nihilistischen Entfesselung des 20.Jahrhunderts mit dem Theater des Dadaismus, des Surrealismus und des Absurden versteht sich die Schaubühne unserer Zeit wieder als moralische Anstalt (namentlich im deutschen Sprachraum). Es geht wieder um Besserung der Sitten. Aber lachen darf man dabei nicht mehr. Jedenfalls nicht über alles von der Norm Abweichende, das frühere Zeiten als Infirmität auffassten (die Schwuchtel, der Depperte).
Komisch ist heute nur noch das überforderte Ehepaar aus der unteren Mittelschicht, das nicht auf der Höhe der Zeit steht. Über seine überholten Vorstellungen darf jedermann guten Gewissens lachen. Wenn es aber anfängt, Trump, Le Pen oder Kickl zu wählen und seine Stimme dem Front National, der AfD, der FPÖ oder der SVP zu geben – dann muss man es fürchten.
In dieser Lage läuft jetzt in Bern Yasmina Rezas "James Brown trug Lockenwickler" über die Bühne. Nach der halben Vorstellungszeit verstummt rechts aussen in der mittleren Reihe die Lachdrossel. Das Spiel vollzieht sich von nun an in ergebener, zuweilen auch schläfriger Stille.
Möglicherweise werden kommende Zeiten das bühnenmässige Nicht-Ereignis vom Freitagabend in Bern vor dem Hintergrund der politischen Ungewissheiten in Deutschland, Frankreich, Österreich, Korea, der Ukraine, dem Nahen Osten und den Vereinigten Staaten von Amerika als Stille vor dem Sturm deuten.
Er ist ja nicht schwarz!
Was soll der Spass?
Ernsthaftes gibt es nicht?