Wie spielt man Chopin? © Philippe Escalier.

 
 

 

Une Leçon de Piano avec Chopin. Pascal Amoyel.

Spectacle musical.

Christian Froment, Philippe Séon. Théâtre Le Ranelagh, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. Januar 2025.

 

> Das Théâtre Le Ranelagh in Paris hat heute dreihundert Plätze. 1894 aber wurde es im Stil der flämischen Neorenaissance für den Automobilindustriellen Louis Mors als privater Musiksalon erbaut. Mit seiner Kassettendecke und den geschnitzten Wänden aus dunklem Eichenholz steht es seit fünfzig Jahren unter Denkmalschutz. In diesem atmosphärisch und akustisch aussergewöhnlichen Gehäuse ist nun die Stimme Chopins zu hören: als Komponist, Lehrer und Freund. <

 

Auf der Bühne des Théâtre Le Ranelagh erzählt Pascal Amoyel seinen Werdegang als Pianist. Als Kind begann er zu spielen, ohne die Noten zu kennen. Das merkte er aber erst, als ihm Chopins Ballade Nr. 1 op. 23 geschenkt wurde: Er konnte das Gedruckte nicht entziffern. Das Versagen in frühen Jahren (ein Fressen für die Psychoanalytiker, sagt Amoyel augenzwinkernd) machte für den Pianisten Chopin zum Ausgangspunkt der Entwicklung. Der Anfänger wollte den polnischen Komponisten nicht nur spielen, sondern richtig spielen. Mit diesem Wunsch plagte er sich und die Klavierlehrer, bis ihm einer den Unterricht aufkündigte: "Für die Auskunft, die du verlangst, musst du dich an einen Schüler Chopins wenden."

 

Nun wusste auch der Junge, dass Chopin und seine Schüler längst gestorben waren. Aber er brachte den Grossvater dazu, mit ihm die Musikbibliotheken von Paris aufzusuchen, und dort wurden sie fündig: Die Schüler hatten Aufzeichnungen hinterlassen. In einem Buch des Pianisten Alfred Cortot waren sogar zehn Tafeln aus Chopins Hand reproduziert, in denen der Meister Anleitung zum richtigen Klavierspiel gegeben hatte. Im Lauf der Erzählung nimmt Pascal Amoyel eine um die andere hervor und modifiziert die Interpretation nach ihren Anweisungen. Daraus erwächst "une leçon de piano avec Chopin".

 

Aus dem Jenseits blickt das Genie dem Schüler über die Schulter. Pascal Amoyel vernimmt seine Stimme. Sie führt den jungen Klavierspieler Schritt um Schritt zu einem reifen Verständnis der Musik. Hier geht es nicht um Leistung, nicht um Technik, nicht um Ruhm, sondern um Unverstelltheit, Atem, Leben – damit das Unaussprechliche von Natur und Seele zum Erklingen komme.

 

Zurückhaltend in Szene gesetzt von Christian Froment, führt der Abend unter der subtilen Beleuchtung von Philippe Séon immer tiefer in den pulsierenden Kern von Chopins Inventionen. Längst haben Bühne, Flügel und Interpret für das Zuschauerauge an Bedeutung verloren, als der Meister die Anweisung gibt: "Wenn du das Stück ganz beherrschst, musst du es im Finstern spielen." Daraufhin geht das Licht aus. Jetzt ist nur noch er da, der grosse Verletzliche, mit seinem Nocturne op. 48 Nr. 1, im kostbaren Gehäuse des Théâtre Le Ranelagh. Wie aber die Vorstellung aus ist und sich der Pianist für den Applaus verbeugt, ruft eine Stimme: "Merci!"

Nocturne op. 48 Nr. 1. 

Merci! 

 
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