Bilder deiner grossen Liebe. Wolfgang Herrndorf.
Romanfragment (Bühnenfassung von Robert Koall).
Nadine Schwitter, Andreas Bächli, Daniel Steiner. Theater Orchester Biel Solothurn.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 22. November 2024.
> Eine problematische Sache. Mit "Bilder deiner grossen Liebe" von Wolfgang Herrndorf kommt ein Romanfragment auf die Bühne, welches sich nur deshalb von einem Hörspiel unterscheidet, dass sich zwei Schauspieler im Raum bewegen und dazu auswendig sprechen. Aber immer noch hat der Text episodenhaften, erzählenden Charakter, nicht dramatisch zugespitzten. Als das Romanfragment entstand, litt der Autor an einer unheilbaren Krankheit. 2013 brachte er sich im Alter von 48 Jahren um. Deshalb durchziehen zahlreiche Äusserungen zu kurz bemessener Lebenszeit, Tod und Selbstmord den Text. Am Anfang kommt auch, als Grund fürs Ausflippen der Erzählfigur, eine Inzestgeschichte zur Sprache: Sie ereignete sich im Schlafsack zwischen dem Vater und seiner noch nicht schulpflichtigen Tochter. Dazu schreibt TOBS!: "Altersempfehlung 12+". Eine problematische Sache. Als Weihnachtsmärchen wird sich die Aufführung nicht eignen. Doch für die grösseren Kinder? Jedenfalls werden in Solothurn und Biel Schulvorstellungen gegeben. Beginn 10:15 Uhr. <
Aus den Episoden des Romanfragments schält sich mit der Zeit heraus, dass die Hauptfigur eine junge Frau ist, die lieber ein Junge wäre. Aus diesem Grund tragen jetzt auf der Bühne ein junger Mann und eine junge Frau den Text vor: Nadine Schwitter und Gabriel Noah Maurer. Sie verkörpern die beiden Seiten desselben Ichs: die männliche und die weibliche, die dunkle und die helle.
Die junge Frau hasst ihren Körper. Vermutlich, weil sich der Vater, als sie noch ein ganz kleines Mädchen war, allzu liebevoll mit ihm abgegeben hatte. Er sagte, sie brauche keine Angst zu haben, legte den Arm auf sie und zog den Reissverschluss des Schlafsacks hoch. Die Erzählung bricht an dieser Stelle ab. Seitdem aber hat die junge Frau eine "dunkle Seite".
Nachdem sie mehrere Jahre zwangshaft gestohlen hatte, brachte sie die Spaltung, so ist anzunehmen, in eine Anstalt. Der Vater war schon tot. Bevor sie zur Schule kam, erschlug ihn ein Meteorit. Das Kind wird das Unglück wohl als göttliche Strafe für den unaussprechlichen Inzest aufgefasst haben.
Zu Beginn der Aufführung erlebt die Erzählfigur die "Allmacht der Gedanken" (der Begriff stammt von Sigmund Freud und bezeichnet eine Störung des Realitätsprinzips). Sie glaubt, sie habe mit der Kraft des Willens die schweren Eisentore der Anstalt dazu bringen können, sich zu öffnen. Ein Lastwagen fährt herein, und durch ihn verdeckt, büxt sie aus.
Es folgt Episode auf Episode. Wikipedia erzählt sie beflissen, wenn auch etwas ungelenk, nach:
In einem Dorf, das sie per Anhalter und zu Fuss erreicht, stiehlt sie aus einem Supermarkt Essen, wobei sie sich Schnittwunden zuzieht. Nach einer Übernachtung im Kornfeld und einer nicht unentdeckt gebliebenen Dusche im Rasensprenger eines Fußballplatzes ... verschafft sie sich unerlaubt Zutritt zu einem Lastkahn ...
Wie bei den Nachrichtensendungen der Privatradios und bei den Hörspielen der staatlichen Rundfunkanstalten wird die "Road-Novel" durchgehend von Musik begleitet. Andreas Bächli, der für Bühnenbild, Kostüme und Video zeichnet, hat zu diesem Zweck einen Container auf die linke Seite gestellt, hinter dem sich Daniel Steiner konzentriert über seine Konsolen beugt, um Klänge und Rhythmen hervorzubringen. Sie vermischen sich mit den bewegten Formen der Videoprojektionen am Bühnenhintergrund, die sich, wie die Musik, aus vor- und liveproduzierten Elementen zusammensetzen. Gabriel Noah Maurer bläst ab und zu durch einen Strohhalm in ein Gefäss und produziert damit Seifenblasen, die auf der Leinwand zweidimensionale Kreise bilden. Die Pariser Kritik würde dazu schreiben: "So what?"
Der Fluss, der aus Video und Musik entsteht, schafft eine Kontinuität, die der Aufführung letzten Endes eher schadet als nützt. Weil die Episoden durchgehend ineinandergleiten, kommt Gleichförmigkeit auf, und damit Langeweile. Vermutlich wäre es besser gewesen, die Teile durch harte Abschnitte voneinander zu trennen (als Muster also nicht den Film, sondern den Diavortrag oder das Bilderbuch zu nehmen, wo man durch Blättern vom einen zum andern kommt). Dann hätten die separaten Erzählelemente mehr Eigengewicht bekommen, und es hätte sich ein Wechsel der Töne ergeben, der jetzt fehlt. Ohne ihn aber verstösst die Inszenierung gegen jenes elementare ästhetische Prinzip, das die Gebildeten seit der Antike "variatio delectat" nennen.
Das Gleichmass verstärkt sich dadurch, dass der "narrative Duktus" mitinszeniert wird. Im Roman sagt der Text, was der Leser sehen soll. Auf der Bühne und im Film aber kann, nein: muss man es zeigen. Und hier liegt das Verhängnis. Bei "Bilder deiner grossen Liebe" wird zu viel geredet. Die Schauspieler sind in erster Linie Rezitatoren. Die Bühnenfassung von Robert Koall ist eben von ihrem Wesen her näher beim Hörspiel als beim Theater. Zwar achtet Nadine Schwitter, die sich selbst und ihren Partner Gabriel Noah Maurer inszeniert hat, auf belebten Sprach- und Körperausdruck, aber mit der Materialität der Körper im Raum wird die Einbildungskraft durchs konkrete Hier und Jetzt gefesselt, wogegen sie im Roman und Hörspiel freigelassen wird, um in die Dimension von Traum und Ahnung zu schweifen. Mit der Entscheidung für Inszenierung statt Lesung hat TOBS! das falsche Format gewählt. Das Resultat: Text gegen Bühne 1:0.
Die Frage nach der Bedeutung des Titels bleibt bis zum Schluss offen. Die Aufführung beantwortet sie nicht. Auch Wikipedia versagt. Ist gemeint, dass das ganze Geschehen als Folge inzestuöser Liebe aufzufassen ist, durch welche die Erzählfigur aus dem Gleichgewicht geworfen und in den Tod getrieben wurde? Dann wären die "Bilder" als Symbol der Entwurzelung ein durchgehender Vorwurf an den Vater. Aber ist die Vermutung zutreffend? Oder feiert der Text in Wirklichkeit die wilde Lebensgier einer ungezähmten Figur? Oder beides?
Der Titel "Bilder deiner grossen Liebe" bezieht sich auf ein postum veröffentlichtes Romanfragment von Wolfgang Herrndorf. Das Buch erschien 2014 und ist eine Fortsetzung seines bekannten Romans "Tschick" aus der Perspektive der Protagonistin Isa Schmidt.
Der Titel selbst, den Herrndorf noch vor seinem Tod festlegte, spiegelt die tiefen und oft komplexen Emotionen wider, die Isa auf ihrer Reise durch Deutschland erlebt. Sie trifft auf verschiedene Menschen und Situationen, die sie dazu bringen, über Liebe, Verlust und das Leben nachzudenken.
Ah, danke Bing! Gut, gibt es dich, du liebe künstliche Intelligenz, die uns weiterhilft, wenn wir am Ende sind!
Die Container stehen ...
... für eiserne Härte ...
... und Trash.