Woyzeck. Georg Büchner.
Schauspiel.
Bojana Lazić, Zorana Petrov. Produktion des Theaters Freiburg i. Br. bei den Bühnen Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. November 2024.
> "Woyzeck" heute. Da ist die Titelfigur selbstverständlich eine Frau und heisst Marie. Andererseits ist Marie (im Original die Mutter des Kindes) heute ein Mann und heisst Franz (wie im Original die männliche Titelfigur). Und selbstverständlich wird Franz (im Original Marie) nicht mehr von einem Mann verführt, sondern von einer Frau, die konsequenterweise kein Tambourmajor mehr ist, sondern eine Popsängerin mit dem bizarren Namen Käthe Cherry. Das ist alles ganz okay, wenn auch nicht des Aufhebens wert, weil lediglich genderkorrekter Mainstream. Was aber die Produktion über den Durchschnitt hinaushebt, ist, wie ergreifend sie das Drama vom Menschen vergegenwärtigt, auf dem alle rumtrampeln. Wenn Georg Büchner seinen "Woyzeck" heute geschrieben hätte, dann hätte er ihn so, genau so auf die Bühne gebracht, wie ihn jetzt das Theater Freiburg in den Berner Vidmarhallen zeigt. Vor dieser Leistung verneigt sich die Stimme der Kritik. <
Woyzeck ist der Mensch, auf dem alle rumtrampeln.
Mit diesen Worten eröffnete Alfred Kerr am 6. April 1921 seine Besprechung im "Berliner Tageblatt". Und er fuhr fort:
Dem Hauptmann dient er zur Hänselei. Dem Doktor dient er zum Kaninchen. Dem Tambourmajor dient er zum Püffefang. Seiner Marie dient er zur Wurz'n [= zur Ausnützung]. Woyzeck ist der Mensch, auf dem alle rumtrampeln.
Somit ein Behandelter – nicht ein Handelnder. Somit ein Kreisel – nicht eine Peitsche. Somit ein Becken – nicht ein Quell. Somit ein Opfer – nicht ein Täter.
Woyzeck wehrt sich nicht ... Und als er sich doch wehrt, einmal: ermordet er nicht den Tambourmajor: sondern die Geliebte. Nicht den Räuber: sondern die Geraubte. Nicht den Feind: sondern das eigene Herz.
Dieses Drama, in genialer Raffung vom grossen Kritiker nacherzählt, entfaltet nun das Theater Freiburg in seinem Austauschgastspiel auf der Riesenfläche von Vidmar 1. Die schnellen, fliegenden Wechsel von einer Szene zur andern, die den Rhythmus des Films vorwegnehmen und vom Theater zu Georg Büchners Zeit noch gar nicht zu schaffen waren, ermöglicht heute das Mittel der Simultanbühne.
Vorne rechts stellt Zorana Petrov ein Treibhaus auf. In ihm zieht der Doktor (Antonis Antoniadis) wuchernde Versuchspflanzen. Und Woyzeck muss hinter ihren Blättern niederkauern, um Harn für die Urinprobe auszuscheiden. Wenn sich "das Kaninchen" brav gehalten hat, bekommt es "Zulage". Auf Woyzecks Gesicht erscheint ein grundgütiges, naives Strahlen. Laura Palacios, die den armen Menschen mit tausend Schattierungen verkörpert, versorgt die grossen Scheine mit dankbarem Seufzer in der Wäsche und trägt sie ungesäumt auf die linke Bühnenseite.
Hier steht ein Wohncontainer mit schmuddeligem Proletarierinterieur, in dem der drogensüchtige Franz, Vater von Marie Woyzecks Kind, seine Tage mit müssigen Klimpereien auf dem Keyboard verbringt und vom Aufstieg träumt. Bei Martin Hohner zeigt er zwei Gesichter: charmanter Lausejunge und kalter Egoist. Wenn ihm, wie Büchner schreibt, "die Natur kommt", zieht er Woyzeck leidenschaftlich an sich. Dann denkt er wieder mit leeren Augen an den Stoff und sehnt sich nach der Popsängerin mit dem bizarren Namen Käthe Cherry, die (anstelle des Tambourmajors) mit der E-Gitarre aufreizend vor seinem Fenster paradiert. "Sie guckt sieben Paar lederne Hosen durch!", ruft Franz bewundernd zu Joanna Horstmann, die dieses "Weibsbild" gibt. Sie ihrerseits rühmt an Franz: "Über die Brust wie ein Rind und ein Bart wie ein Löw'."
Die Sätze stehen in der Buchfassung an anderer Stelle. Einzelne stammen gar aus "Dantons Tod". Aber die Neukombination, die Regisseurin Bojana Lazić vornimmt, ist legitim. Das Stück ist nämlich bloss in drei unterschiedlichen Handschriften überliefert. Die Fragmente bestehen aus einer Vielzahl loser Fetzen. Sie repräsentieren unterschiedliche Zeiten und Entwicklungsstufen. Darum ist die vom Autor intendierte Gestalt des Dramas nicht mit Sicherheit zu eruieren und immer noch Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen.
Wesentlicher ist, dass Bojana Lazićs Inszenierung den Kern trifft und ihn durch Übersetzung eine in heutige Bildsprache dem Publikum vergegenwärtigt. Der Hauptmann (Dražen Pavlović) ist immer noch ein Parasit, Wichtig- und Nichtstuer, aber ein heutiger. In grossen Bögen fährt er mit dem E-Scooter auf und gibt sich nicht mehr betont schneidig wie im 19. Jahrhundert, sondern betont lässig wie im 21. Jahrhundert. Uniform und Benehmen haben sich, sagt die Aufführung, verändert, aber der Mensch nicht. Immer noch dient Woyzeck dem Hauptmann zur Hänselei, wenn auch das Wort dafür heute "Bossing" heisst.
Auf der Bühne findet sich als weiterer Spielort ein Hügel. Woyzeck besteigt ihn mit Schutzhelm und Leuchtweste, um mit der Motorsäge Tannen umzuhauen ("Stecken geschnitten für den Hauptmann"). Dieses Werkzeug (und nicht mehr, wie bei Büchner, das Messer) benützt er, um in einem finalen Amoklauf nicht nur den geliebten Menschen, sondern alle, die auf ihm rumgetrampelt sind, umzubringen. "Tot! Tot! Ein guter Mord. Ein schöner Mord."
Aber das ist nicht das letzte Wort. Alle stehen wieder auf. Das Drama hat keinen Abschluss gefunden. Die Tochter von Franz und Marie spricht den Epilog. Belana Kienappel, eine begnadete Kinddarstellerin, deren expressive Haltungen den ganzen Abend lang das Drama grundierten, zeigt, dass sich das Verhängnis von Generation zu Generation weiterwälzt, von der Zeit Büchners bis heute und von der europäischen Friedensinsel bis nach Nordkorea, Palästina und die Ukraine.
Hätte Georg Büchner seinen "Woyzeck" heute geschrieben, dann hätte er ihn so, genau so auf die Bühne gebracht, wie ihn jetzt das Theater Freiburg in den Berner Vidmarhallen zeigt. Die Inszenierung nimmt die subtile, ungemein knappe und doch aussagestarke Vorlage auf und übersetzt sie in ein überzeugendes, modernes Zeichensystem, bei dem das junge Ensemble mit Körperausdruck und Sprachmelodie die höchsten Anforderungen erfüllt. Davor verneigt sich die Stimme der Kritik mit Hochachtung.
Opfer der Wissenschaft.
Opfer der Lage.
Und der Verführung.