Pygmalion. Amir Reza Koohestani und Mahin Sadri nach George Bernard Shaw.
Komödie.
Amir Reza Koohestani. Residenztheater München.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 1. Dezember 2024.
> "Pygmalion", George Bernard Shaws Klassiker aus dem Jahr 1913, trat 1956 unter dem Titel "My Fair Lady" als Musical seine Weltkarriere an. Jetzt kommt die Komödie, nochmals umgewandelt, in einer aktuellen Fassung auf die Bühne. Das Korsett der korrekten Aussprache, in welches Professor Higgins einst das Blumenmädchen Eliza Dolittle zwängte, liefern heute Algorithmen, und nicht mehr "Everyman's English Pronunciation Dictionary" des englischen Phonetikers Daniel Jones aus dem Jahr 1917. <
Zusammen mit Mahin Sadri hat Amir Reza Koohestani "Pygmalion" im Auftrag des Bayerischen Staatsschauspiels umgeschrieben und auf die Bühne des Cuvilliés-Theaters gebracht. Dafür wurde die Vorlage durch Sima Djabar Zadegan aus dem Persischen und Englischen ins Deutsche übersetzt. Die Personen heissen immer noch gleich wie im Original, doch verkörpert werden sie von Anna Bardavelidze (Liza), Maya Haddad (Pearce), Pujan Sadri (Freddy) und Delschad Numan Khorschid (Doolittle). Derlei Namen trägt heute in Deutschland die Unterschicht, während die Namen Robert Dölle (Higgins) und Florian Jahr (Pickering) auf die indigene Oberschicht verweisen.
Dieser aktuellen Gegebenheit entsprechend legt Amir Reza Koohestani seine Inszenierung ein paar Meter neben der präparierten Piste an. Ausgangs- und Endpunkt sind unverändert. Immer noch führt die Handlung an den gleichen Stellen vorbei, aber durch Tiefschnee. Die ungewohnte Linie zwingt Macher und Zuschauer zum Aufpassen. Nichts ist mehr gegeben. Alles muss neu erobert werden. So provoziert die Münchner Fassung durch Verfremdung laufend Aha-Erlebnisse, von denen die einen zum Schmunzeln, die andern zum Nachdenken anregen.
"Frischluft fürs Original" lautet der Titel des Gesprächs mit dem Autorenpaar, das im Programmheft abgedruckt ist. Zur Dramaturgin Katrin Michaels sagt der Regisseur Amir Reza Koohestani: "Heute ist Realismus auf der Bühne dem Spiel von Kindern verwandt – man verabredet eine Wirklichkeit mit festen Regeln. Je genauer man diese Verabredung einhält, desto verführerischer ist es, sie in der nächsten Szene zu brechen, so wie Kinder eine Sandburg zerstören, die sie gebaut haben. Wenn die Realität etabliert ist, kann ich beginnen, mit ihr zu spielen und das Wesentliche der Situation herauszuarbeiten." Und Co-Autorin Mahin Sadri erklärt: "Das Stück zeigt die Machtverhältnisse auf, die dadurch entstehen, wie Menschen aufgrund ihres Akzents oder Dialekts, ihrer Grammatik und ihres Wortschatzes wahrgenommen und bewertet werden."
So viel zum Stück.
Seit der Jahrtausendwende sind Interviews mit den Machern fester Bestandteil der Programmhefte. Das Publikum kann nachlesen, wie das, was es sah, gemeint war. Das Konzept hinter dem Ganzen wird offengelegt, das Warum und Wozu ausformuliert. Seither gibt es in den Theatern nichts mehr zu entdecken, nur noch abzuhaken. "Transparenz" lautet das Zeitphänomen. Die Tätigkeit des Zuschauers reduziert sich auf den Vergleich zwischen Plansoll und Planerfüllung. Puäh.
Die Publikation des Konzepts verschleiert indessen die Tatsache, dass "Werke der Kunst", wie Hans-Georg Gadamer darlegte, "nicht nur gelegentlich, sondern immer" auch noch anderes und Zusätzliches sagen, als die Urheber meinten. Sie "übertreffen die Intention". Aus diesem Grund riet Gustave Flaubert zu Verschwiegenheit.
Als der erste Band der "Rougon-Macquart" erschien, schrieb der 49-jährige Verfasser von "Madame Bovary" dem 31-jährigen Debütanten Emile Zola:
Ich habe gerade Ihr grauenhaftes und schönes Buch beendet! Mir ist immer noch schwindelig. Es ist stark! Sehr stark!
Ich tadle nur das Vorwort. Meiner Meinung nach verdirbt es Ihr Werk, das so unparteiisch und hoch ist. Sie verraten darin Ihr Geheimnis, was zu kindlich ist und was in meiner Poetik einem Romanautor nicht erlaubt ist.
Das sind alle meine Einschränkungen.
Aber Sie haben ein stolzes Talent und sind ein tapferer Mann!
Bitte teilen Sie mir mit, wann ich Sie besuchen kann, um ausführlich über Ihr Buch zu sprechen.
Ich schüttele Ihnen herzlich die Hand und bin Ihr
Gustave Flaubert.
Merci. Bien dit.
Der Professor oben ...
... lässt sich herab ...
... und wird verlassen.