Das Schloss. Franz Kafka.
Schauspielfassung des Romans durch Karin Henkel und Rita Thiele.
Karin Henkel, Thielo Reuter, Markus Schadel. Residenztheater München.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 1. Dezember 2024.
> Bei der Inszenierung von Kafka "Schloss" verfolgen Karin Henkel als Regisseurin und Rita Thiele als Dramaturgin das soziologische Muster. Ihm zufolge gibt es wohl Strukturen, Mechanismen, Gesetzmässigkeiten. Aber das Individuum spielt keine Rolle. Der Einzelfall ist lediglich ein Beleg für die Theorie oder eine konsequenzlose Ausnahme. Für die Kunst gilt das Umgekehrte: Sie feiert das Besondere, die Abweichung, den Einzelfall. – So verhält es sich indessen nicht auf der Bühne des Münchner Residenztheaters. Hier ist das System alles. Das Individuum dagegen erscheint bloss als unbedeutende, auswechselbare Nummer. Um das zu zeigen, wird K. multipliziert und auf verschiedene weibliche und männliche Schauspieler verteilt; dazu noch auf eine Schar putziger Kinderstatisten. So wird der Landvermesser zum Opfer des Zeitgeists. <
Obwohl die Aufführung "Das Schloss" über den soziologischen Kamm schert, finden sich in ihr zwei bemerkenswerte Ausnahmen: eine ärgerliche und eine beglückende. Ein älterer Schauspieler fällt aus dem Ganzen durch sein markantes Stimm- und Artikulationsproblem. Vermutlich hält ihn die Unkündbarkeit des Vertrags auf den Brettern; jedenfalls nicht das sprecherische Talent. Andererseits lässt die junge Vassilissa Reznikoff aufhorchen. Sie spielt, alternierend mit verschiedenen Kolleginnen, die Pepi und die Frieda – also die kleinen Dienstkräfte im Dorfgasthaus. Egal, welchem der wechselnden K.-Darsteller sich die Reznikoff zuwendet, stets hat ihr Spiel Natürlichkeit, Farbenreichtum und Herzenswärme. Mit diesen Qualitäten unterläuft (oder übersteigt) sie das Regiekonzept und realisiert Kafka anstelle von Henkel/Thiele.
Im Roman kommt ein Landvermesser ins Dorf, das unterhalb des Schlosses liegt, um seine Aufgabe anzutreten. Aber es gelingt ihm nicht, mit der Behörde in Kontakt zu treten. Um so eifriger verfolgt er seine Beziehungen zu den Unmassgeblichen. Und da passiert viel im Auf und Ab der Dialoge. Nicht aber in der Aufführung. In ihr ist das vierhundertseitige Romanfragment heruntergekürzt auf 1 Stunde 45. Dafür werden drei Prozent des Originals gebraucht (durchsetzt mit ein paar Elementen aus der "Strafkolonie", der "Verwandlung" und dem "Prozess" von Kafka sowie dem "Auftrag" von Heiner Müller).
Der nachtschwarze Raum (Licht Markus Schadel) und der verschachtelte Mechanismus der Drehbühne (Thielo Reuter) illustrieren die "Geworfenheit" des Menschen in Verhältnisse, die sich in keiner Weise um ihn kümmern:
Man ist mit einem Male, zu seiner Verwunderung, da, nachdem man, zahllose Jahrtausende hindurch, nicht gewesen ist, und, nach einer kurzen Zeit, ebenso lange wieder nicht mehr zu sein hat. (Schopenhauer)
Die französischen Existentialisten erkannten bei Kafka ihre Weltauffassung wieder, und entsprechend hoch schätzten sie ihn ein:
Was bedeutet es, dass die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, dass der Mensch [K.] zuerst existiert, in der Welt auftaucht und sich danach [als Landvermesser] definiert. (Sartre)
Demzufolge erscheint K. im "Schloss" wie bei Sartre als ein Sein, "das nicht das ist, was es ist, und das das ist, was es nicht ist". Karin Henkel und Rita Thiele haben diesen Aspekt konsequent verfolgt und durch den Roman eine Schneise geschlagen. Der Reichtum jedoch, der links und rechts davon liegt, kommt nicht ins Blickfeld. Dafür muss man das Buch hervornehmen.
Strukturen.
Mechanismen.
Gesetzmässigkeiten.