Dido & Aeneas. Henry Purcell, Ina Christel Johannessen.
Tanz- und Opernabend.
Artem Lonhinov, Ina Christel Johannessen, Yngvar Julin, Bergje van Balen, Zsolt Czetner. Bühnen Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. November 2024.
> Der Applaus war – wie immer an den Berner Premieren – kompakt, laut und herzlich. Kein einziges Buh. Gleich zwei beliebte Sparten hatten sich zusammengetan, um ihre Freunde ins Stadttheater zu locken: Musik und Tanz. Von deren Liebhabern fragt niemand: "Was soll der Zauber? Was wollt ihr damit sagen?" - Das war indes Mme de Staëls Ansatz, als sie für ihr grundlegendes Werk "De l'Allemagne" Wieland, Goethe und Schiller besuchte. "Auf ihre ewigen Fragen bei jedem Dichtungswerke: 'Quel en est le but? [Was ist das Ziel?]' stand selten eine Antwort in unserm Kunstkatechismus", schrieb Schillers Schwägerin in der ersten Biografie des Klassikers. – Der heutige Kritiker muss nun bekennen, dass er seinerseits nicht verstanden hat, was die Berner Aufführung von "Dido & Aeneas" bezweckte. Er sieht nur, dass die Leute Freude hatten. Aber das ist kein Argument gegen seine Vorbehalte. <
Die Entstehung von Henry Purcells Oper "Dido und Aeneas" fiel in eine unruhige Zeit. Wann genau er sie geschrieben hat, weiss niemand mehr. Es muss im Jahrzehnt ab 1680 erfolgt sein. Ende 1689 jedenfalls führten die Mädchen und jungen Frauen das Werk in Josias Priests's girls' school auf. Es scheint, dass Henry Purcell für das Pensionat mehrere Kompositionen verfasst hat. Sie sind verschollen. Von "Dido und Aeneas" stammt die älteste erhaltene Kopie von 1750. Das ist 60 Jahre nach der Aufführung und 55 Jahre nach Purcells Tod im Alter von 36 Jahren.
In Josias Priests's girls' school wurden reiche Töchter aus höheren Ständen auf ihren Beruf als Dame des Hauses vorbereitet. Sie lernten musizieren, und sie lernten ein gebildetes Gespräch führen. Zu diesem Zweck lernten sie lesen. Englisch sowieso, aber auch Französisch und Latein. Mit dieser Lesefähigkeit waren sie in der Lage zu erkennen, dass die Oper, die das 4. Buch von Vergils "Aeneis" zur Darstellung bringt, voller Warnungen steckt: Feuer geht der Handlung voraus, Feuer schliesst sie ab.
Spielort ist Karthago – die Stadt, die die Römer im Jahr 146 v. Chr. dem Erdboden gleichgemacht haben. In Josias Priests's girls' school weiss das jedes Kind. Es weiss auch, dass Aeneas, der dort landet, ein Flüchtling ist. Hinter ihm liegt das abgebrannte Troja. Der Held hat König Anchises, seinen Vater, noch auf dem Rücken aus der Feuersbrunst getragen. Jetzt fährt er in die neue Heimat. Italien soll es sein, haben ihm die Götter verheissen. Dort wird er ein neues Troja gründen: das Imperium Romanum. Dido aber, die Königin von Karthago, wird, kaum wurde sie von Äneas verlassen, im Liebesschmerz auf einen Scheiterhaufen steigen und sich den Flammentod geben.
In Josias Priests's girls' school lernt man – wie die gesamte gebildete Welt – Texte als allegorische Botschaften aufzufassen. Das Lied des ersten Seemanns ist bedeutungsvoll: "Nimm saufend Abschied von deinen Nymphen am Ufer, und bring ihre Trauer zum Schweigen, indem du schwörst, zurückzukehren, obwohl du sie nie mehr besuchen willst." Diese Aussage soll den jungen Frauen zur Warnung dienen: Den feurigen Liebesschwüren junger Männer ist nicht zu trauen.
Im gleichen Zusammenhang steht auch die Nummer mit Akteon. Er hatte Diana, die keusche Göttin der Jagd, mit ihren Nymphen beim Baden überrascht. Für diesen Akt des Voyeurismus wurde er dazu bestraft, von den eigenen Hunden gejagt und zerfleischt zu werden. Merke: Man enthüllt sich nicht vor Männern! Fleischeslust ist vom Teufel!
Aber die Allegorie von "Dido und Aeneas" hat nicht nur moralische, sondern auch politische Inhalte. In einem Gedicht aus der Entstehungszeit der Oper erklärt Nahum Tate, der Librettist, mit Aeneas sei König Jakob II. bezeichnet. Der Monarch trat 1672 zum Katholizismus über und wurde daraufhin zwischen 1679 und 1682 auf Drängen der parlamentarischen Opposition verbannt. Als er wieder auf den Thron zurückkam, betrieb er die Wiederherstellung des Katholizismus in England. Aus diesem Grund rief das Parlament 1688 Wilhelm von Oranien, den Schwiegersohn Jakobs, nach London, um ein katholisches England zu verhindern. Jakob floh nach Frankreich und wurde für abgesetzt erklärt. Das Ereignis ging als "glorreiche Revolution" in die Geschichte ein.
In diese Zeit fallen Entstehung und Aufführung von "Dido und Aeneas". Die Zuschauer erkennen, wie Jakob II. als Aeneas durch die bösen Machenschaften einer Zauberin und ihrer Hexen (die für den römischen Katholizismus stehen, eine damals gängige Metapher) dazu verleitet wird, Dido, die das britische Volk symbolisiert, zu verraten.
Auf diese Weise steckt Henry Purcells Oper für die Zeitgenossen voller Warnungen. Sie ist sinnhaltig. Die Geschichte, die sie erzählt, ist aktuell, und zugleich Fabel. In Josias Priests's girls' school aber wissen die Töchter als Ausführende und die Angehörigen als Zuschauer: "Fabula docet". Das heisst: Aus der Geschichte kann man Lehren ziehen!
Im Stadttheater Bern aber bringt Ina Christel Johannessen "Dido & Aeneas" als simples Tanz- und Musikspektakel. L'art pour l'art. Zur Darstellung kommen die einzelnen Szenen, ohne einen einleuchtenden Geschichts- und Narrationszusammenhang zu ergeben. Es wird einfach gesungen und getanzt, dass es dem Auge schmeichelt und dem Ohr gefällt. Demzufolge findet sich bei Bühne (Yngvar Julin) und Kostümen (Bergje van Balen) die blasse Neutralität des werktreu-andeutenen Stils vom Neu-Bayreuth der 1950er Jahre. Das bedeutet Spannunglosigkeit, Langeweile, Konventionalität. Verschiedene Zuschauer gähnen. Andere schlafen ein.
Das hindert den von Zsolt Czetner trefflich vorbereiteten Chor nicht, seinen Part mit Engagement und Wohlklang zu versehen. Und das 15-köpfige Ensemble von Bern Ballett wird zu recht gefeiert, gleich wie das Berner Symphonieorchester. Herausragend der Dirigent Artem Lonhinov, der mitten im Geschehen mit der Solovioline eine Sonate von Giuseppe Tartini vorträgt, elegisch, nachdenklich, rein. Ein kostbarer Moment musikalischer Introspektion. Als Dido beeindruckt Evgenia Asanova mit einem dunklen, aber intensiv glühenden Timbre und packender Rollenidentifikation. Jonathan Mc Govern, als Aeneas, darstellerisch recht undefiniert, ist ihr stimmlich ein ebenbürtiger Partner.
Wenn jetzt all diese Kräfte zu uns und unserer Zeit, die gleich unruhig ist wie Purcells Epoche, noch etwas zu sagen gehabt hätten, dann hätten sie uns nicht nur ästhetisch affiziert, sondern auch in unserem Kern erreicht. Und dann gäbe die Aufführung eine Antwort auf Mme de Staëls Frage: "Quel en est le but?" Jetzt aber bleibt sie in dieser Hinsicht stumm, und jeder macht, was er kann.
Wenn uns nur ...
... all diese Kräfte ...
... etwas zu sagen hätten!