Der Revisor. Nikolai Gogol.
Komödie.
Roger Vontobel, Claudia Rohrer, Matthias Hermann, Bernhard Bieri. Bühnen Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 4. November 2024.
> Der Hors-sol-"Revisor". Es kommen zwar Rubel vor, und die Hauptstadt heisst Petersburg – doch szenisch und konzeptionell spielt Nikolai Gogols Komödie in Bern einen Meter über dem Boden. Damit sind Handlung und Figuren nicht mehr geerdet. Der Abend beschränkt sich auf Luftakrobatik. Es fehlen die Wurzeln. Wer TikTok mag, wird sich vom Spiel des äusserst beweglichen, homogenen Ensembles möglicherweise milde angesprochen fühlen, obwohl auf der Plattform die Nummern um ein Erkleckliches kürzer sind. Für alle andern aber wird bald klar, dass reines Figurenballett nicht durch zweieinhalb Stunden zu tragen vermag. Dazu wäre mehr nötig ... aber was? ... Ja, genau: ein Stoff namens ... Substanz! Das ist elementar, mein lieber Watson. <
Über den "Revisor", Nikolai Gogols Komödie aus dem alten Russland, wo es noch einen Kaiser gab, Grossgrundbesitzer und viele, viele Leibeigene, zieht die Inszenierung ein dichtgewobenes choreographisches Netz. Die Figuren betreten nicht einfach die Bühne, sondern sie zischen, tanzen, purzeln, rotieren, hopsen wie die buffonesken Akteure der Commedia dell'arte auf eine von Claudia Rohner hergestellte dynamisch geneigte Fläche. Ohne den Griff zu lockern, führt Roger Vontobel sein Personal zweieinhalb Stunden lang zu sekundengenauen Interaktionen, stupenden Gliederverrenkungen und akrobatischen Wortverdrehungen. Unablässig gibt es etwas zu sehen und zu bestaunen. Punktgenau stossen die jungen, gelenkigen Spieler die Köpfe an, jedesmal mit akkuratem "Peng!" aus Matthias Herrmanns Cello. Und am Ende gibt es gar, bevor der Traum platzt, eine bezaubernde optische Überraschung in Form von Goldgirlanden und Sternenregen. Soweit so gut. Die Komödie als Zirkus.
Alles nur
Dressur.
Von Natur
keine Spur.
Gegen diese konventionelle, aber oberflächliche Inszenierungsweise ("Komödien gibt man schnell und lustig") hat sich das kluge Regietheater seit seiner Entstehung abgesetzt. Den ersten Paukenschlag markierte Peter Stein mit dem "Sparschwein" am 1. September 1973 an der Schaubühne Berlin. Von da an brachten die begabten Einzelkämpfer im heiteren Genre vorzugsweise das Ernste, Schwere, Traurige ans Licht. Dafür drückten sie nicht länger auf Geschwindigkeit, sondern auf Verlangsamung. Das Leichte aber bekam, indem es gegen den Strich gebürstet wurde, auf unerwartete Weise Gewicht. Aus Klamauk entstand Kunst. Immer noch Überraschung – aber dort, wo man sie nicht erwartet. Immer noch Tiefe – aber dort, wo man sie nicht sucht.
Das waren die Pioniere.
Autor kommt von auctor: der, welcher vermehrt. So nannten die Römer den Feldherrn, der dem Vaterland neue Provinzen zuführte. (Ortega y Gasset)
Und nun Nikolai Gogol, der Verfasser des "Revisors". Er war von hohem Ernst getrieben.
Er hielt seinen Mitmenschen einen Spiegel vor; er zeigte alles, was schlecht war, was sie falsch machten, wieviel Ungerechtigkeit in der Welt herrscht, aber er zeigte es auf satirische Weise, karikierend übertreibend, aber immer menschlich.
Damit hatte er von Anfang an Erfolg. Aber er machte sich zugleich auch viele Feinde. Und dies überraschte und enttäuschte ihn: "Alle sind gegen mich", klagte er; "die älteren und soliden Beamten erheben ein Geschrei darüber, dass mir nichts heilig sei, weil ich es gewagt habe, so kühn über die Beamten zu reden. Die Beamten sind gegen mich; die Kaufleute sind gegen mich; die Literaten sind gegen mich ... Das kleinste Anzeichen der Wahrheit – und alle stehen gegen dich auf, nicht nur einzelne, sondern ganze Stände ..."
Zwar ging er auf dem eingeschlagenen Weg weiter. Aber dass er, wie er meinte, von so vielen Menschen missverstanden wurde, er, der ja eigentlich helfen und verbessern wollte, das hat ihn tief getroffen, ja krank gemacht. Es untergrub seine ohnehin schwache Gesundheit. Und da er für so viel Missverständnis die Schuld bei sich selbst vermutete, wollte er Busse tun, um seine Seele zu reinigen. Im "Bewusstsein tiefer Sündhaftigkeit" kam er zu der Überzeugung, seinem sündhaften Leib die materiellen Existenzmittel entziehen zu müssen. Er schränkte die Nahrungsaufnahme mehr und mehr ein, bis er schliesslich überhaupt nichts mehr ass und auch nicht mehr schlief, weil er sich nachts durch Gebete wachhielt. Die Ärzte wollten ihn künstlich ernähren, er lehnte ab und dämmerte schliesslich – nicht ganz 43 Jahre alt – total erschöpft in den Tod hinüber.
Seine grösste Angst war immer gewesen, lebendig begraben zu werden. Als man viele Jahre später seinen Sarg öffnete, sprachen alle Umstände, vor allem die Lage des Skeletts, dafür, dass ihm eben dies geschehen ist. (Gerhard Prause)
Gogols Ehrgeiz hatte sich darauf gerichtet, einmal im öffentlichen Leben, im Staatsdienst, eine bedeutende Stellung einzunehmen, und zwar mit dem Wunsch, etwas allgemein Nützliches zu tun. Über seine Zukunftsabsichten schrieb der Achtzehnjährige:
Seit allerfrühsten Jahren, seit meiner Jugend, noch unbewusst, glühte in mir ein unauslöschlicher Eifer, mein Leben nutzbringend zu machen für das Wohl des Staates, und sei es auch um des geringsten Nutzens willen ... Ich bin im Geiste alle Stände und Dienstverträge im Staat durchgegangen und bei einem geblieben: der Justiz. Ich habe eingesehen, dass hier am meisten Arbeit zu leisten sei und dass ich nur auf diesem Gebiete für die Menschheit wirklich Nützliches leisten werde. Die Ungerechtigkeit, die mir das Herz zerreisst, ist das grösste Unglück auf der Welt. Ich habe es mir geschworen, nicht eine Minute dieses kurzen Lebens zu verlieren, ohne Gutes zu tun.
Vor diesem Hintergrund könnte, nein sollte man am Personal der gesamten Komödie die tragische Seite hervorholen. Denn streng betrachtet, sind alle Figuren Looser. Sie sind ins Leben getreten, um Gutes zu tun, und jetzt, wo sie gesellschaftlich arriviert sind, bleibt ihnen nichts zu tun, als ihr Scheitern durch Pose zu verdecken.
Kein Zufall, steht im "Revisor" an prominenter Stelle ein unfähiger Richter, der, wie alle andern Notabeln der Provinzstadt, sein Amt verrät ... Was es da für Abgründe auszuloten gäbe! Doch Roger Vontobel gleitet mit Schmäh und Talmi über sie hinweg und begnügt sich, Klamauk zu produzieren anstatt Kunst. Wer mag, kann über seine Auffassung lachen; aber ernstnehmen kann man sie nicht.
Klamauk.
Talmi.
Goldgirlanden.