Überwältigend echter Ausdruck. © Joel Schweizer.

 

 

Derborence. Daniel Andres.

Oper.

Yannis Pouspourikas, Dieter Kaegi, Francis O'Connor, Mario Bösemann, Valentin Vassiliev. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. Oktober 2024.

 

> Mit "Figaros Hochzeit" zeigte das kleine, bald hundertjährige Theaterunternehnen am Jurasüdfuss vor wenigen Wochen, dass es, wie "Der Bund" vermerkte, auch grosse Oper kann, und zwar spielend. Jetzt beweist es mit "Derborence", dass es auch kleine Oper kann, was, streng betrachtet, noch eine Idee schwieriger ist. Bei der Nähe der Zuschauer zur Bühne sticht jedes falsche, unstimmige Detail gleich ins Auge, und wegen der bescheidenen Orchestergrösse deckt kein breiter Sound die musikalischen Patzer zu. Desto beeindruckender kommt es heraus, wenn Altmeister Dieter Kaegi und seine Crew die Kurzoper von Daniel Andres so exakt und respektvoll auf die Bühne bringen, dass jeder Moment gefüllt ist und das Zuschauerherz erreicht. – Nach dem Besuch einer fremden Vorstellung murmelte ein seinerzeitiger Opernchef: "Ich habe mich keine Minute gelangweilt. Das ist schon viel." Bei "Derborence" müsste er sich gar zu Lob aufschwingen. Das steht ausser Frage. <

 

Bei dieser Uraufführung ist alles richtig. Davor kann man sich nur verneigen. Bühnenbildner Francis O'Connor, der vor sechs Jahren schon den Triumph von "Iolanta" mitgestaltete, bringt für "Derborence" eine geneigte Fläche von groben Holzbrettern auf die Bühne. Ihr schwarzer, aber schon verbrauchter Anstrich evoziert das Innere der Sennhütten unterhalb der Diablerets. Wenn die Bergler (das heisst die Künstler, die Regisseur Dieter Kaegi mit seinen Zauberhänden in Bergler verwandelt hat) beim Gehen ihre dicken Sohlen auf die Bretter setzen, klingt der ganze Boden mit. Da können die grossen Häuser schon nicht mithalten. Am Jurasüdfuss ist das Publikum eben nicht bloss nah dran, es ist drin. Damit spielt Kaegi, der hocherfahrene Intendant, von der ersten Spielminute an jene Trümpfe aus, die er nur bei TOBS! aus dem Ärmel ziehen kann.

 

Zu den Trümpfen gehört Mario Bösemann. Unter Beat Wyrsch hat er als einfacher Beleuchter in Biel/Solothurn angefangen, und heute gehört er zur Liga der Lichtgrossmeister. Mit den Strahlen seiner Scheinwerfer bestreicht er zart das Liebespaar von Antoine und Thérèse, meisselt die harten Gesichter der Bergler hervor (Chor und Solisten), taucht den Tanz der Toten in unheimliches Schwarz und gestaltet im Finale den Wasserfall aus Nebel mit, durch den Francis O'Connor ein letztes Mal die überwältigende Wucht der Bergwelt evoziert, nachdem er am Anfang den gespenstischen Bergsturz mit einfachen, aber hochwirksamen Bühnenmitteln erschütternd herbeigerufen hat.

 

Zu den Trümpfen gehört auch der Chor (Leitung Valentin Vassiliev). Er besteht aus Laien, die ihre ganze aussertheatralische Berufserfahrung und Vergangenheit in den Dienst der künstlerischen Aufgabe stellen, Figuren zu vergegenwärtigen. Das erklärt den starken Ausdruck ihrer Gesichter und Bewegungen. Und es erklärt eine Echtheit der Darstellung, die man nicht herbeikünsteln kann, sondern aus dem Leben selbst holen muss.

 

Zu den Trümpfen gehört, wie immer in der Kaegi-Intendanz, das Gesangsensemble: Lauter starke Stimmen. Beeindruckend schon der Bass von Mischa Schelomianski als Séraphin, der als erster zu singen beginnt: klangschön und wunderbar konturiert. Ergreifend die Wahrheit und Simplizität im Ausdruck des jungen Paars: Samy Camps als Antoine und Julia Deit-Ferrand als Thérèse. Rollendeckend und zuverlässig die ergänzenden Partien, versehen durch Katerina Hebelkova, Flurin Caduff, Fabian Meinen und Konstantin Nazlamov.

 

Zu den Trümpfen gehört das kleine, aber feine Sinfonieorchester Biel Solothurn TOBS! Kompaktes Zusammenspiel von jungen, talentierten, hochmotivierten Künstlern, die mit Bravour ihre solistischen Partien meistern, angeleitet von Yannis Pouspourikas, dem Chefdirigenten.

 

Und schliesslich das Trumpf-As: Daniel Andres. Aus dem Roman von Charles-Ferdinand Ramuz hat er eine sechzigminütige Kurzoper gemacht, die, wie der Held der Erzählung, lange vergraben blieb, heute aber, im 88. Lebensjahr des lokalen Komponisten, beeindruckend ans Licht tritt. Die Partitur übersetzt die letzten Sätze von Ramuz' Roman in Musik.

 

Manchmal zeigt sich eine Schafherde in dieser Einsamkeit, weil dort ein wenig Gras wächst, wo ihm der Fels Platz zum Durchbrechen lässt; sie wandert lange umher wie der Schatten einer Wolke.

Wenn sie sich bewegt, macht sie ein Geräusch wie ein starker Regenschauer.

Wenn sie grast, macht sie ein Geräusch wie die ganz kleinen Wellen, die an einem sonnigen Abend mit schnellen, kurzen Schlägen ans Ufer brechen.

Das Moos hat mit einem langsamen und sorgfältigen Pinsel die grössten Felsstücke mit leuchtenden Gelb-, Grau-in-Grau- und Grüntönen bemalt, die in ihren Ritzen verschiedene Pflanzen und Büsche ernähren, Preiselbeeren, Heidelbeeren, Sauerdorn, mit harten Blättern und hölzernen Früchten. Im Wind klingen sie wie leise, kleine Glöckchen.

 

Original:

Quelques fois un troupeau de moutons se montre dans ces solitudes, à cause d'un peu d'herbe qui y pousse, là où la roche lui laisse la place de percer ; il y erre longuement comme l'ombre d'un nuage.

Il fait un bruit comme celui d'une grosse averse quand il se déplace.

Il fait, quand il broute, un bruit comme celui des toutes petites vagues qui viennent, les soirs de beau temps, à coups rapides et rapprochés, heurter la rive.

La mousse, d'un pinceau lent et minutieux, a peint en jaune vif, en gris sur gris, en toute sorte de verts, les plus gros des quartiers de roc; ils nourrissent dans leur fissures plusieurs espèces de plantes et de buissons, airelle, myrtille, épine-vinette, aux feuilles dures, aux fruits ligneux, qui tintent dans le vent doucement comme des clochettes.

 

Ramuz' Angaben ("ein Geräusch wie ... ") hat Daniel Andres übersetzt in gemässigt atonale, wunderschön kantable Linien, in denen an einzelnen Stellen die Harfe "wie kleine, leise Glöckchen" die elfenhafte Natur zum Klingen bringt. So hat sich der Koponist mit "Derborence" spät, sehr spät, in die Geschichte der Schweizer Musik eingeschrieben.

 

1989 erklärte der damals 82-jährige Walliser Komponist Jean Daetwyler: "Der Künstler schafft immer für seine Zeit. Auch wenn seine Zeit ihn noch nicht versteht, weil sie aus der Kenntnis von Werken urteilt, die dreissig, fünfzig, hundert Jahre zurückliegen." Als Beispiel zitierte er die Totenrede, die der Rektor der Universität Leipzig am Grab von Johann Sebastian Bach gehalten hatte: "Er sprach eine Viertelstunde über die Verdienste des Bürgers und die Arbeit als Lateinlehrer, aber kein Wort über die Musik." Und Mozart! "Der grösste Komponist seiner Zeit. Aber als er tot war, hat niemand darauf achtgegeben, wo er beerdigt wurde."

 

"Da liegt der Vorteil, wenn man so alt wird wie ich" fuhr der 82-jährige fort. "Nachdem lange niemand etwas von mir wissen wollte, werde ich jetzt aufgeführt. Mit dieser Wiedergutmachung kommt die Balance meines Lebens ins Plus. Ich habe Glück. Schubert hat die meisten seiner Kompositionen nie gehört. Gleich ging es Mozart mit den letzten, kühnsten Sinfonien."

 

Es handelt sich dabei nicht ums Ego: "Der Komponist ist der einzige Künstler, der sein Werk nicht betrachten kann, wenn er es hervorgebracht hat. Der Maler legt den Pinsel ab, und das Bild steht vor ihm. Der Dichter legt die Feder weg, und er hat den Text vor Augen. Der Komponist aber erkennt erst, was er hervorgebracht hat, wenn er die Partitur hört. Und dafür ist er auf die Mitwirkung eines Orchesters angewiesen."

 

Heute nun, im 88. Jahr seines Lebens, kann Daniel Andres in den Häusern von Biel und Solothurn erkennen, was er hervorgebracht hat. Und die Musikwelt mit ihm. – Nachdem die "Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt" um 23 Uhr ihre Nachtkritik ins Netz gestellt und durch drei Sterne kundgetan hatte: "Hervorragend. Egal, wo Sie herkommen: Zu dieser Aufführung lohnt sich die Reise", mailte ein sehr viel gereister Kritikerkollege zurück: "Bin voll und ganz einverstanden!! Grosse Klasse war das. Und dem Andres gönn ich den verdienten Triumph von Herzen!" – So hat das kleine, bald hundertjährige Unternehnen am Jurasüdfuss mit der Uraufführung von "Derborence" eine grosse, ja überwältigende Musiktheaterstunde hervorgebracht.

In geraffter Form ... 

... Leben ... 

... und Tod. 

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