Theaterherbst in Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. Oktober 2025.

 

 

La fille du régiment. Gaetano Donizetti.

Opéra comique.

Evelino Pidò, Laurent Pelly, Chantal Thomas. Opéra national de Paris.

 

> Heute, wo der Krieg Russlands gegen die Ukraine in das dritte Jahr geht und der Krieg der Hamas gegen Israel ins achtunddreissigste, ist "La fille du régiment" nicht mehr aufführbar. Donizettis Machwerk (musikalisch weitgehend unerheblich) besingt zwei Akte lang den Krieg, das Kameradschaftsleben im Feld, die Besetzung ausländischer Territorien, den Kampfesmut gegen den Feind, die verehrungswürdigen Schlachtenwunden und den ruhmreichen Heldentod. In seinem Schauspiel "Operette" hat Witold Gombrowicz solchem Unsinn gegenüber den Philosophen entgegnen lassen: "Kotz, kotz, kotz." <

 

Im Zentrum von Donizettis Machwerk aus dem Jahr 1840 steht Marie, eine von der Truppe adoptierte Waise. Sie ist la fille du régiment. Im Gazastreifen leben heute schätzungsweise 40'000 Waisenkinder, deren Verhältnisse wir nicht kennen, weil alle Journalisten ferngehalten werden.

 

Marie ist eine verschollene Adelige. Am Ende der Handlung kommt sie zu Reichtum, Schloss und Mann. In Palästina ist die "Perspektive für weit mehr als zwei Millionen Menschen: eine Zukunft ohne jede Zukunft", konstatiert dagegen am Premierentag Thomas Avenarius in der "Süddeutschen Zeitung".

 

"La fille du régiment" mündet ins Finale:

 

Salut à la France !

À ses beaux jours !

À l'espérance !

Salut à la gloire !

Salut à la France !

 

Mit diesem Finale fiele das Werk in Deutschland unter den Strafrechtsparagraphen 131. Er richtet sich gegen die Verherrlichung und Verharmlosung von Krieg und Gewalt.

 

Als die Oper entstand, war Frankreich ein imperialistischer Kolonialstaat. "La fille du régiment" verherrlicht die Armee, auf der die Macht ruht, und verniedlicht den Krieg. Alle Länder, die den Krieg kennen und vom Sieg träumen, können das Werk in ihren Nationalopern aufführen. Sie brauchen nur den Namen auszuwechseln:

 

Heil dem tausendjährigen Reich!

Heil Russland!

Heil den USA!

Heil der Hamas!

Heil der Hisbollah!

Heil Israel!

Heil Palästina!

Heil Nordkorea!

Heil der grossen islamischen Republik!

Auf ihre schönen Tage!

Auf die Hoffnung!

Auf den Ruhm!

 

Kotz, kotz, kotz.

 

An der Premiere der Wiederaufnahme vermerkt der Besetzungszettel, es handle sich um die 1104. Wiedergabe des Werks an der Pariser Nationaloper. Doch das 120 Seiten dicke Programmbuch unterschlägt, dass Paris eine Produktion übernommen hat, die 2007 am Royal Opera House Covent Garden London Premiere hatte und von dort aus die Metropolitan Opera New York und die Staatsoper Wien bespielte.

 

Für das konservative Publikum dieser Häuser hat Regisseur Laurent Pelly, der auch die Kostüme besorgte, zusammen mit Bühnenbildnerin Chantal Thomas vor 17 Jahren eine problemlos kommerzialisierbare Inszenierung erarbeitet, deren ästhetischer Schick dem Auge schmeichelt und jetzt auch an der Seine gut ankommt, namentlich wenn eine derart famose Sopranistin wie Julie Fuchs die Titelrolle versieht.

 

Evelino Pidò, Stabmeister der obersten Liga, dirigiert mit Witz, Einsatz und brillanter Zeichengebung Donizettis Machwerk, als seien dort Kostbarkeiten herauszuheben. Die Situation erinnert an die Anekdote, die Richard Wagner in seinen Lebenserinnerungen überliefert hat. Der Herzog von Coburg rühmte dessen "gute Anwendung der Posaunen; als er hierfür von Liszt die Mitteilung meiner Maximen sich erbat, habe ihm dieser erwidert, das Besondere hierbei wäre, dass, ehe ich für die Posaune schriebe, mir immer etwas einfiele". Bei der "Fille du régiment" ist das keinem Beteiligten passiert.

 

 

*** Les sœurs Hilton. Valérie Lesort.

Schauspiel.

Christian Hecq/ Valérie Lesort. Compagnie Point Fixe im Théâtre des Bouffes du Nord, Paris.

 

> Liebevoll hat Christian Hecq, Sociétaire der Comédie-Française und mehrfacher Molière-Preisträger, zusammen mit seiner Frau, der vielseitig begabten Masken- und Figurenbildnerin Valérie Lesort, ein Zirkus- und Varieteespektakel ins Leben gerufen, das von der ersten Minute an packt. Es ergänzt die artistische Kunstfertigkeit mit Menschlichkeit und gibt den "Sœurs Hilton" Tiefgang. <

 

Wie immer, wenn etwas gelingt, bilden Anfang und Schluss markante Akzente. Bei den "Sœurs Hilton" treten zuerst zwei stumme, rotgekleidete Zirkusdiener vor den Vorhang und installieren ein Schnurmikrofon auf dem Boden. Sein Ständer ist so kurz, dass es den Männern nur bis zu den Fussknöcheln reicht. Gebückt beklopfen sie es und vergewissern sich, dass es funktioniert. Dann treten sie ab. Jetzt schlüpft ein kleiner Hund unter dem Vorhang hervor, stellt sich vor das Mikrofon und beginnt, mit schnellen Bewegungen das Maul auf und zuzuklappen. Die Lautsprecher übertragen seine Ansprache: "Meine Damen und Herren, ich begrüsse Sie zu unserer Vorstellung. Sie finden mich sympathisch. Aber ich kann auch beissen, wenn ich jemanden erblicke, der aufs Handy schaut."

 

Über dem Zirkusportal beginnt ein Musiker zu spielen. Eine Jahreszahl wird eingeblendet: 1903. Mit wedelndem Schwanz begibt sich der Hund hinter den Vorhang, und eine groteske Figur tritt auf: Christian Hecq, kostümiert als alte Frau, ja beinahe schon Märchenhexe. In Brighton, erklärt sie mit unheimlichem Zungen- und Gebärdenspiel, betreibe sie eine Schank. Nebenberuflich arbeite sie als Hebamme und helfe den armen Mädchen, ihre unehelichen Kinder zur Welt zu bringen. Schon setzt ein Stöhnen ein. Der Vorhang teilt sich. Die Zuschauer wohnen der Geburt der "Sœurs Hilton" bei.

 

Die absurde Wehmutter setzt sich zur geschwächten Wöchnerin: "O du armes Wesen! Wie willst du deine Zwillinge durchbringen? Am besten gibst du sie zur Adoption frei! Schau, ich hab hier grad ein Formular. Du brauchst es nur zu unterschreiben." Mit resoluter Gebärde drückt sie der jungen Frau einen Stift in die Hand und führt ihn so, dass die beiden Striche ein X bilden.

 

Die Neugeborenen sind an den Hüften ineinander verwachsen. Als Varietee-Attraktion werden sie der Alten ein Vermögen bringen. Die Darstellerinnen Valérie Lesort und Céline Milliat-Baumgartner lassen das Leben der Sœurs Hilton in stupendem Zusammenspiel vorüberziehen. Es zeigt den Traum der Beziehung zu einem Mann, die Schwängerung von einer der Schwestern, während sich die andere unbeteiligt stellt und in einem Magazin blättert; später folgen die Prostitution der vier nackten fünfzigjährigen Brüste in einer Peep-Show, das armselige Alter der vergessenen Stars und ihr rührend unheimliches Ende.

 

Sie liegen im Bett. Der Fernseher läuft. Da gewahrt die eine, dass sich die andere davongemacht hat. Mit ihrem Tod ist das Ende der siamesischen Zwillinge erreicht. Erschrocken nimmt die noch Lebende den Arm der Dahingegangen zu sich, umklammert ihn angstvoll, resigniert, liebend. Das Licht erlischt. Mit einem unvergesslichen Bühnentod hat sich die Truppe verabschiedet.

 

Valérie Lesort, Verfasserin des Stücks und Darstellerin der einen Schwester, erklärt die Faszination der "Sœurs Hilton":

 

Indem ich mich vom Leben der siamesischen Zwillinge Daisy und Violet Hilton inspirieren liess, wollte ich die Truppe würdigen: die der Monster, die in ihr jene Zuflucht und Familie fanden, die sie nie gehabt hatten, aber auch unsere eigene. Mit der Welt des Zirkus und des Varietees ehre ich die verschiedenen Talente und Fähigkeiten der Künstler und Techniker, die uns [Christian Hecq und mich] seit vielen Jahren umgeben.

 

Von diesem Herbst an tourt die Künstlerfamilie mit ihrer zarten menschlichen Botschaft unter anderem durch Lyon, Paris, Compiègne, Le Havre, Dunkerque, Namur, Nice, Martigues, Saint-Michel-sur-Orge, Poitiers, Chambéry, Évreux, Vesoul ... Dabei werden die Beteiligten ihre Figuren weiter ausloten; ihnen in die geheimsten Kammern der Seele nachsteigen; ihnen auf die Schliche kommen und erleben, dass eine Rolle im Lauf der Aufführungen wächst: "An der Premiere ist die Interpretation ja noch nicht fertig", erklärte Monique Mani, die Grande dame der Genfer Schauspiels. "Je sicherer man sie beherrscht, desto spielerischer, kühner, souveräner kann man danach ihre Facetten zur Darstellung bringen." Bei diesem Spiel werden die Beteiligten immer wieder überrascht, was in Stück, Aufführung und Rolle steckt. Aus diesem Grund unterstrich auch Jane Savigny, die Grande dame der Lausanner Schauspiels, wie wichtig es sei, dass man eine Inszenierung oft spielen könne.

 

Aufs Mal spüren die Darsteller, wie der Partner die Flügel ausbreitet: "Da liegt das höchste Glück", sagte eine weitere Grösse der Westschweizer Theaterszene, Séverine Bujard. "Es ist schwer zu erklären, aber das Wesentliche passiert nicht in den Sätzen, die wir aussprechen; auch nicht in den Rollen, die wir spielen, sondern in dem, was sich zwischen den Beteiligten einstellt." Das realisiert sich nun im Spiel der Künstlerfamilie Compagnie Point Fixe von Valérie Lesort und Christian Hecq, und die staunenden Zuschauer erleben es dankbar mit.

 

 

* Passeport. Alexis Michalik. (UA)

Schauspiel.

Alexis Michalik. Théâtre de la Renaissance, Paris.

 

> Gebrauchstheater. Mit diesem Wort bezeichnete Christian Schneeberger, Dokumentationsleiter der einstigen Schweizerischen Theatersammlung (heute Schweizer Archiv der Darstellenden Künste SAPA) Aufführungen zu einem Gegenwartsthema, das in der Gesellschaft heftige Reaktionen auslöst. In den 1980er Jahren war das Aids. Heute die Migrationsfrage. Sie steht im Zentrum von Alexis Michaliks "Passeport", einem Stück Gebrauchstheater, das schon mehr als hunderttausend Zuschauer ins Pariser Théâtre de la Renaissance geführt hat. <

 

Gebrauchstheater verfährt nach bewährten Rezepten. Sein Personal führt die Positionen einer aktuellen Debatte auf die Bretter. Im konkreten Fall sind das Migranten, die im Aufnahmelager von Calais ein Zelt teilen. Auf der anderen Seite vertritt ein pensionierter französischer Oberst die Argumente der Migrationsgegner. Sein schwarzer Adoptivsohn ist Grenzpolizist. Als unterstes Mitglied der Behörde, welche die staatlichen Weisungen umzusetzen hat, vertritt er die direkt betroffenen, aber hilflos resignierten Einheimischen. Seine Freundin gehört zur zweiten, bereits in Frankreich sozialisierten afrikanischen Einwanderergeneration. In der Journalistenrolle verficht sie die populismuskritische Position. Dramaturgisch betrachtet, bringt sie das Stück aus der Darstellungs- auf die Argumentationsebene.

 

Die Identifikation der Zuschauer schaffen (a) die Darstellung bekannter Situationen und (b) zwei Liebesgeschichten nach dem Schema "boy meets girl". Der Grenzpolizist lernt die Journalistin kennen, der Migrant eine Bibliothekarin. Nun ist die Anteilnahme geweckt: Hoffentlich kommt es mit den Paaren gut! – Nach demselben Muster (Schaffen sie's?) wird (c) die Identifikation durch das Element weiterverstärkt, dass der bescheidene, sympathische Migrant allen Widerständen zum Trotz ein Projekt umsetzt: Eröffnung eines Weltküche-Restaurants in Paris. Es soll Eingewanderte im Gastrobereich ausbilden und eine Brücke zu den Eingesessenen schlagen.

 

Die Schritte (1) Darstellung und Auffächerung der Problemlage (Exposition), (2) Schaffung von Identifikation durch das sogenannte "erregende Moment" der Liebe (Steigerung) und (3) Höhepunkt mit Heirat und Restauranteröffnung (Klimax) führen (4) zum Umschlag (Peripetie): Der schwarze, vorbildlich assimilierte Migrant ist in Wirklichkeit der verlorengegangene Grenzpolizist. An diesem Punkt entpuppt sich "Passeport" als Verwechslungsgeschichte.

 

Seit der Antike sind unzählige Stücke nach diesem Muster entstanden. Vier Fünftel als Komödien wie "Das Spiel von Liebe und Zufall" von Marivaux oder "Die venezianischen Zwillinge" von Goldoni; ein Fünftel als Tragödien wie "Der vierundzwanzigste Februar" von Zacharias Werner oder "Das Missverständnis" von Albert Camus.

 

Die (5) "Auflösung" (Katastrophe) erfolgt durch die "Wiedererkennungsszene" (Anagnorisis): Die falschen Identitäten werden aufgedeckt, alles kommt an seinen richtigen Platz. Bei "Passeport" muss Stückeschreiber Alexis Michalik dafür den Handlungsverlauf unterbrechen und früher Vorgefallenes nachholen.

 

Dieser undeklarierte chronologische Rücksprung ist nicht nur unelegant, er ist auch verwirrend: Selbst für geübte Zuschauer sind die Fäden kaum auseinanderzuhalten. Philosophisch und moralisch hingegen lässt sich die Verwirrung nicht als Fehler, sondern als Aussage verstehen: Es ist Zufall, wer wo auf Erden steht. Ein Grenzschützer kann unter anderen Umständen geradeso gut Migrant sein. Für diese Botschaft stehen die Zuschauer im Théâtre de la Renaissance am Ende auf; bis heute mehr als hunderttausend.

 

 

L'extraordinaire destinée de Sarah Bernhardt. Géraldine Martineau. (UA)
Schauspiel.

Géraldine Martineau. Théâtre Palais-Royal, Paris.

 

> Wäscheleine. Damit sind Stück und Aufführung beschrieben. Die lose, durchhängende Schnur entspricht dem Zeitstrahl. An ihm sind einzelne Fetzen aufgehängt. Sie zeigen Kurzszenen aus Sarah Bernhardts Leben und werden durch nichtssagende musikalische Zwischenspiele auseinandergehalten. Aber der Name der Tragödin zieht. Das Theater ist gut besetzt. Im Epilog erklärt die Darstellerin der Titelrolle, die Bernhardt habe den Männern zeigen wollen, wozu eine Frau imstand sei. Für solche Lehre spendet das Publikum dankbar Applaus. <

 

Als Autorin und Regisseurin zeichnet Géraldine Martineau für Stück und Aufführung. Auf beiden Feldern liefert sie bloss eine beflissene Schülerarbeit ab, Note: ungenügend. Die Bühne bebildert einzelne Stationen aus Sarah Bernhardts Leben, doch fehlt es an Präzision und Durchschlagskraft. Zwar spielen alle loyal mit, aber es ist ihnen verwehrt, durch Persönlichkeit und Talent dem Abend Leben zu geben, schon nur, weil jeder Spieler drei bis fünf Kleinstrollen vorzubringen hat. Einzig die Darstellerin von Sarah Bernhardt könnte einen Bogen schmieden. Aber Estelle Meyers Spiel ist beschränkt und ihre Stimme verschlissen ... vielleicht nur am besuchten Abend, vielleicht für immer. So oder so – der Abend stimmt traurig.

 

Mit dem szenischen Biopic führt das Théâtre Palais-Royal vom heutigen Paris zurück in die Zeit vor der Dampfeisenbahn. Damals rekrutierten die Prinzipale der österreichischen Provinztheatertruppen ihre Spieler im Komödienbierhaus. Wie es dort zuging, hat Ignaz Franz Castelli, Autor von 199 vergessenen Lustspielen, beschrieben:

 

Der Direktor einer ambulanten Truppe kommt ins Bierhaus und spricht: Herr Wirt, ich brauche einen Liebhaber, ist einer da?

Wirt (auf den jungen Mann deutend): Dort sitzt so was.

Jüngling (steht auf und tritt vor): Ich bin zu Ihren Diensten.

Direktor (nachdem er ihn lange stillschweigend gemessen): Nun, das Wachstum ist nicht übel, da lasst sich was reden. Was spielt der Herr?

Jüngling: Feste Liebhaber.

Direktor: Wo waren wir denn zuletzt engagiert?

Jüngling: Zu Bruck an der Leitha.

Direktor: Schlechte Wirtschaft dort! Bei mir geht's genauer zu. Wie lange ist der Herr schon beim Theater?

Jüngling: Drei Jahre.

Direktor: Wer waren wir denn früher?

Jüngling: Buchdrucker.

Direktor: Hat der Herr einen schwarzen Frack?

Jüngling: Ja, einen schwarzen, diesen blauen und auch einen Überrock.

Direktor: Das lässt sich hören. Kann der Herr die sieben Aktionen des Königs?

Jüngling: Ich verstehe Sie nicht.

Direktor: Man wird mich gleich verstehen. Zeig' mir der Herr, wie wird er gehen, wenn er einen König spielt?

Jüngling: (schreitet pathetisch auf und nieder).

Direktor: Nicht übel! Wie grüsst der König?

Jüngling: (nickt herablassend mit dem Kopfe).

Direktor: Bravo! Ich sehe, das geht schon.

Jüngling: Wo spielen Sie denn jetzt, Herr Direktor?

Direktor: In Wilhelmsburg, es ist recht schön dort und hat viele Kunstkenner; der Herr ist engagiert, die Hand darauf! Heute abends um sechs Uhr komme der Herr zum Blauen Bock zu Mariahilf, da fahren wir miteinander mit einem Kälberwagen nach St. Pölten und von dort gehen wir zu Fuss nach Wilhelmsburg.

Jüngling: Ich möchte Sie noch um einen kleinen Vorschuss bitten.

Direktor: Da hat der Herr einen Gulden, und Sie, Herr Wirt, geben Sie dem Mann noch eine Halbe Bier, ein Brot und ein Rostbratl.

 

So stand es in Wien mit der Schauspielerkunst. (Ignaz Franz Castelli) Und in Paris zuweilen nicht anders. (Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt)

 

 

** Le Porteur d'Histoires. Alexis Michalik.

Schauspiel.

Alexis Michalik. Théâtre Montparnasse, Paris.

 

> Das Stück als Labyrinth. Virtuos verknüpft Alexis Michalik hundert lose Erzählfäden zu einem einzigen durchgehenden Strang. Am Ende reicht die Verbindung von Algerien über die Ardennen bis nach Nordamerika; von der Urzeit über die alten Griechen bis zu den Kreuzfahrern; vom Ancien régime über die französischen Revolution bis in die Gegenwart. Dabei nimmt das Erzählte zuweilen den Charakter alternativer Wahrheiten an, und das Flirren der Geschichten wird zum Flirren der Geschichte. <

 

Der Autor inszeniert sein Stück selbst. Dafür wird er mit zwei französischen Theaterpreisen – sie heissen hierzulande Molière – bedacht: einem für das Stück und einem für die Inszenierung. Die Entscheidung ist nachvollziehbar. Obwohl im Lauf von knapp zwei Stunden viele, viele Geschichten ausgetüftelt und miteinander verbunden werden, verliert das Publikum nie die Orientierung. Es versteht, an welchem Punkt sich die Handlung gerade befindet, auch wenn "Le Porteur d'Histoires" die verschiedenartigsten Ebenen miteinander in Beziehung setzt.

 

Die erste Ebene bilden der Erzähler und seine beiden Zuhörerinnen. Die Frauen leben in einem einsamen Haus am Rand der algerischen Wüste. Der Erzähler kommt mit dem Auto und sucht ein Zimmer für die Nacht. Die Frage: "Was hat Sie hergeführt?", bringt Verhältnisse ans Licht, die in der Vergangenheit liegen. Sie werden in Form von Geschichten vorgetragen (zweite Ebene).

 

Hinter den Geschichten aber, welche die Herkunft der drei Personen erklären, liegen die Verhältnisse, die zu ihrer Geburt führten. Die Verhältnisse im Bereich der Familiengeschichte (dritte Ebene) ruhen auf Verhältnissen der allgemeinen Geschichte (vierte Ebene). Die vier Ebenen werden durch das Wort miteinander verknüpft, und es ist immer ein Erzähler (porteur d'histoires), der das Wort handhabt. Ob das, was er vorbringt, wahr ist, entscheidet der Glaube des Zuhörers. Er schenkt nur dem Vertrauen, was ihm glaubwürdig vorkommt. So bilden vorgefasste Einstellungen den Filter, der Flunkereien abweist und Tatsachenberichte durchlässt (fünfte Ebene). Das Neue, das Wahre aber erreicht uns nie unmittelbar.

 

"Le Porteur d'Histoires" spielt folglich mit dem Faktum, dass die Wahrheit durch einen Kommunikationsakt entsteht. Jemand teilt etwas mit und behauptet, es sei wahr, bzw. wirklich gewesen. Der Angesprochene nimmt das Mitgeteilte auf und betrachtet es je nach den Einstellungen seines Fürwahrhaltens als Tatsache. Die Zürcher Germanistin Margret Walter-Schneider hat über diese Verflechtungen ein faszinierendes Buch geschrieben: "Denken als Verdacht. Untersuchungen zum Problem der Wahrnehmung im Werk Franz Kafkas".

 

Die verschiedenen – nennen wir sie: narrativen Ebenen realisiert Alexis Michaliks Inszenierung als Spielebenen. Blitzschnell und "glaubwürdig" (s. fünfte Ebene) schlüpft das Ensemble in unterschiedliche Personen und Zeiten. Dafür genügt der Wechsel eines Kostümteils oder Requisits, und schon gestaltet die Phantasie des Publikums das Gemeinte aus und fängt an, darin zu leben. Die Qualität der Aufführung liegt also, wie man sieht, in ihrer schauspielerischen Evokationskraft, unterstützt von inszenatorischer Eleganz (sechste Ebene).

 

Der "Wechsel der Töne" ist zweifellos gegeben. (Mit diesem Hölderlin-Wort bezeichnete Walther Killy jenes elementare ästhetische Prinzip, das die Gebildeten seit der Antike "variatio delectat" nennen.) Doch beim "Porteur d'Histoires" erstreckt sich die "Variatio" leider nicht auf den Rhythmus. Die Szenen sind alle mehr oder weniger gleich lang und haben mehr oder weniger das gleiche Tempo. Damit gleicht das Schauspiel von Alexis Michalik einer Symphonie, die nur aus einem einzigen Satz mit der Bezeichnung Allegro besteht. Die höchste Perfektion aber verlangt das Spiel mit Beschleunigung, Verlangsamung... und Vertiefung. Das ist jedenfalls die Auffassung des Kritikers aus Bümpliz und der Welt (siebte Ebene).

 

 

*** L'usage du monde. Nicolas Bouvier.

Monolog.

Catherine Schaub. Théâtre de Poche Montparnasse, Paris.

 

> "Der Gebrauch der Welt" (L'usage du monde) erzählt vom ersten Teil einer Fahrt von Belgrad nach Kabul mit einem Fiat Topolino in den Jahren 1953/54. – Acht Verleger lehnten das Manuskript ab. 1963 publizierte es Nicolas Bouvier auf eigene Kosten. Einmal gedruckt, brauchte das Buch dreissig Jahre, um Leser zu finden. Danach schwoll sein Ruhm unablässig an. Es wurde zum Klassiker der modernen Reiseliteratur. 2018 kam es in Frankreich auf die Lektüreliste für die Kandidaten des höheren Lehramts (aggrégation de lettres). Heute füllt sein Vortrag zwischen dem 5. September und dem 17. November 2024 täglich ausser Montag das Théâtre de Poche Montparnasse Paris bis auf den letzten Platz. <

 

Wie Georg Christoph Lichtenberg schrieb, lernte Nicolas Bouvier durch seine lange Reise in den Fernen Osten "eine Sache neu anzusehen, nicht durch das Medium der Mode, oder mit Rücksicht auf unser Modesystem". Damit wurde seine Weltsicht erweitert, und von dieser Erweiterung erzählt "L'usage du monde". Voraussetzung ist allerdings, wie Nicolas Bouvier zeigt, dass wir in der Fremde zum Fremden kommen. Das wird immer schwieriger. Um 1775 bemerkte der hellsichtige Lichtenberg : "Wenn es einmal in der Welt keine Wilden und keine Barbaren mehr gibt, so ist es um uns geschehen."

 

Bis zur Erfindung der Dampfkraft genügte es, das Land zu verlassen, um Abenteuer zu finden:

 

Das Schiff fing an, solche Bewegungen zu machen, dass grosse Kisten von einer Seite zur anderen stürzten, mit einem solchen Gepolter, dass man glaubte, das Schiff müsse in Stücke springen. Endlich riss unser Vordersegel, und alle Matrosen bis auf zwei oder drei wurden krank.

 

Das erlebte Georg Christoph Lichtenberg auf einer Fahrt über den Ärmelkanal.

 

Von Göttingen reisete ich ab montags den 29. August 1774 um 11 Uhr vormittags und setzte den Fuss in Essex ans Land den 25. September um 3 Uhr nachmittags, nach einer Seefahrt von 24 Stunden. Den 27. September kam ich in London an und stieg in Oxford Street ab.

 

Heute können wir, wie Nicolás Gómez Dávila feststellt, das Reisen vergessen:

 

In diesem Jahrhundert der umherziehenden Menschenmengen, die jeden glanzvollen Ort entweihen, ist die einzige Huldigung, die ein respekt­voller Pilger einem verehrungswürdigen Heiligtum darbringen kann, die, es nicht zu besuchen.

 

Es genügt zu betrachten, wie sich die Reisenden benehmen:

 

Die jüngsten Generationen gehen zwischen den Trümmern der abend­ländi­schen Kultur umher wie japanische Touristen zwischen den Ruinen von Palmyra.

 

Die Ursache ist klar:

 

Es ist unmöglich, in der Welt umherzureisen und gleichzeitig intelligent zu sein. Die Intelligenz ist eine Angelegenheit von Sitzfleisch.

 

Und der Nicolas-Bouvier-Abend im vollbesetzten Théâtre de Poche Montparnasse zeigt:

 

Die Welt, die es wert wäre, Reisen zu unternehmen, existiert bereits nur noch in alten Reiseberichten.

 

Indem Nicolas Bouviers alter Reisebericht in Zustände zurückführt, die vor siebzig Jahren existierten, wird seine Reise zum Trip. Belgrad lag in einem Land namens Jugoslawien. Der Iran war ein Kaiserreich und hiess Persien. Die Türkei war laizistisch, und der Schleier war verboten.

 

Auf seiner Reise aber vernahm Nicolas Bouvier schon die Klage:

 

Der Islam hier, der wirkliche ... damit ist es vorbei ... nichts als Fanatismus, Hysterie, Leid. Die Gläubigen folgen nur noch ihren schwarzen Fahnen, schreien, plündern ein paar Läden oder verstümmeln sich selbst in ihren Ekstasen am Todestag der Imame ... Da bleibt nicht mehr viel Ethik übrig; was die Lehre betrifft, reden wir nicht davon! Ich habe hier einige echte Muslime gekannt, einige sehr bemerkenswerte Leute ... Aber die sind alle tot oder verschwunden. Nun ... der Fanatismus ist die letzte Revolte des armen Mannes, die einzige, die man ihm nicht zu verweigern wagt. Sie bringt ihn dazu, am Sonntag zu schreien, aber unter der Woche hält er sich still, und es gibt Leute, die sich damit arrangieren. Vieles wäre besser, wenn es weniger leere Bäuche gäbe.

 

In Paris wird jetzt "L'usage du monde", klug gerafft, vom Schauspieler Samuel Labarthe im Format "seul en scène" vorgetragen, und das Publikum begegnet nicht nur einer vergangenen Welt, sondern auch einem beinahe schon vergangenen Ideal von Sprechkunst. Die Basis bildet eine wohlklingende, makellose Diktion. Dazu kommt eine intelligente Gestaltung der Textmasse mit subtilen Verlangsamungen und Beschleunigungen. Und schliesslich ein Ohr für die richtige Satzmelodie. Wenn das Ganze ohne Ostentation daherkommt, so dass man nicht das Geringste von Catherine Schaubs Regie bemerkt, die auf "weniger, weniger, weniger!" drängte, dann verschwinden Theater und Schauspieler hinter der Botschaft, und man empfindet Nicolas Bouviers Weltbeschreibung wie eine späte, kostbare Blüte. "Zerpflücke eine Rose, und jedes Blatt ist schön." (Bertolt Brecht)

 

 

** Hélène après la chute. Simon Abkarian. (UA)
Schauspiel.
Simon Abkarian. La compagnie des 5 roues im Théâtre de l'Epée de bois, Paris.

 

> Als alle Verteidiger getötet waren, verteilten die siegreichen Griechen die trojanischen Frauen unter sich. Helena kam zu Menelaos zurück. In einem 75-minütigen Dialog schildert Simon Abkarian die Wiederbegegnung des königlichen Paars nach zehnjähriger Trennung, und das Theater bewältigt die inhaltsschwere Situation mit Neoklassizismus. <

 

Auf hohen, dünnen Absätzen betritt eine grossgewachsene, schlanke Frau mit schwarzem Wuschelhaar den Raum. Sie bleibt nachdenklich stehen, und die Zeit dehnt sich aus. Regisseur Simon Abkarian gestaltet das Hereinkommen als Auftritt. Doch wessen Auftritt? Ah, der Pianistin! Sie setzt sich hinter den Flügel und eröffnet die Vorstellung mit perlenden Läufen im zeitlosen Chopin-Stil.

 

Und zeitlos geht es weiter. Die beiden hohen Personen der antiken Mythologie, Helena und Menelaos, erscheinen in gediegener, schwarzer Abendgarderobe und stellen sich, drei Meter voneinander entfernt, hinter schwarzen Ständermikrofonen auf. Die Entscheidung zum Neoklassizismus bedeutet Einfachheit. Ruhe. Durchstilisierung. Reduzierte Interaktion. Reduziertes Gebärden-, Körper- und Mienenspiel. Konzentration aufs Wort. Hörspiel mit Klavierbegleitung. Nicht Theater.

 

Auch die Sätze, die die hohen Herrschaften zu formulieren beginnen, sind gehoben. Nichts Alltägliches befleckt den Ernst ihres Gesprächs. Es hat monologischen Charakter. Der rasche, erregte Austausch von Halbversen (Stichomythien) wird vermieden. Wie könnte es anders sein? Königliche Figuren drücken sich nicht einfach aus. Sie lassen sich verlauten.

 

Dadurch, dass der Autor Informationen über früher Vorgefallenes einflechten muss, das aus dem Stoffkreis der "Ilias" stammt und heute nicht mehr vorausgesetzt werden kann, verlangsamt sich die Handlung weiter bis zur Zeitenthobenheit. – Auf diese Weise imitiert das Stück Homers epische Gemessenheit. Bei jeder Intervention wird sein "Darauf hob er an und sprach die bedeutenden Worte ..." mitinszeniert.

 

In "Hélène après la chute" bedeutet Neoklassizismus die antipsychologische, antirealistische und antidramatische Darstellung eines bedeutenden mythologischen Moments durch stille Einfalt und edle Grösse (Winkelmanns Ideal). Wie bei Wolfgang Hildesheimers Hörspiel (später Stück) "Das Opfer Helena" von 1955 erweisen erweisen sich dabei beide, Helena und Menelaos, im Lauf des Dialogs als Opfer, genauer: als Opfer des Systems. Und man spürt, wie sie hinter den Worten zart aufeinander zuwachsen.

 

Übers Ganze gesehen liegt die Pariser Produktion quer zur Gegenwart. Das macht sie für die Gelehrten interessant. Am nächsten steht ihr Rudolf Alexander Schröder. In einem programmatischen Vortrag mit dem Titel "Vom Beruf des Dichters in der Zeit" postulierte er: "Sein und Ziel aller Kunst ist Erhebung aus dem Vergänglichen, ist Rettung des Vergänglichen ins Unvergängliche, ins Bleibende". 1947 wurden diese Sätze gesprochen. Achtzig Jahre später zelebriert sie La compagnie des 5 roues für eine schmale Schar von Eingeweihten im Théâtre de l'Epée de bois in Paris. Neoklassizismus. Abgewandelte Wiederkehr des Gleichen.

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