Sein und Schein: Diese Leiter führt nicht in den Himmel. © Tanja Dorendorf.

 

 

Arabella. Richard Strauss.

Lyrische Komödie.

Nicholas Carter, Marco Storman, Marton Agh, Christian Aufderstroth. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. Oktober 2024.

 

> Eine Ausnahmeoper in einer Ausnahmeproduktion mit Ausnahmesängern. Das letzte Werk, welches aus der Zusammenarbeit von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal hervorgegangen ist. Die Uraufführung erfolgte vier Jahre nach dem Tod des Dichters. Unter Reichskanzler Adolf Hitler hatten die Nazis soeben die Macht übernommen und begonnen, Deutschland mit organisiertem Stumpfsinn, Brutalität und aggressivem Rassenwahn umzupflügen. Der historischen Wirklichkeit gegenüber spielt "Arabella" in einem Wien der Operette um 1860. Kaiser Franz Josef I. sitzt noch fest auf dem Thron des Vielvölkerstaats. Doch Feingefühl, Distinktion, Noblesse und Seelenadel sind bereits in Auflösung geraten. Darum beschreibt das vielschichtige Werk jetzt die problematischen Seiten der Liebe. Die Berner Ausnahmeproduktion ist ihm gewachsen und macht mit ihren Ausnahmesängern "Arabella" zum Ereignis. <

 

Sein und Schein. Ein beliebtes Thema der leichten Muse. Und Hofmannsthal nennt seine dreiaktige "Arabella" eine "lyrische Komödie", ja "fast Operette". In ihr trägt zwar einer den Grafentitel, ist aber in Wirklichkeit verarmt. Die Position eines Rittmeisters (also eines Kavalleriehauptmanns) hat er quittiert, die Herrschaftswohnung in Wien veräussert. Jetzt ist er mit der Familie in einem billigen Hotel eingemietet und hofft, durch Gewinn am Spieltisch das Glück erzwingen zu können. Derweil hat die Gräfin den Familienschmuck versetzt. Sie erwartet, dass Arabella, die hübsche Tochter in heiratsfähigem Alter, einen reichen Mann finden wird, der die ganze Familie auf seine Güter mitnehmen und dort durchbringen wird. Eine Kartenaufschlägerin soll sagen, aus welcher Richtung der Retter zu erwarten ist.

 

Diese Situation unterstreicht: Man kann seinen Augen nicht trauen. Arabella erfüllt für die Eltern die Funktion eines Lockvogels. Sie ihrerseits betrachtet die Freier mit abschätzigem Blick. Die tiefe, treue Liebe ihres wirklichen Anbeters jedoch nimmt sie nicht wahr. Sein und Schein. Der Bruder Arabellas ist in Wirklichkeit eine verkleidete Schwester. Sie spielt die Rolle eines jungen Mannes, weil es die Eltern nicht vermögen, zwei Töchter auszustatten. Mit verstellter Handschrift beantwortet sie an Arabellas Statt die Briefe des aufrichtig Liebenden und erwidert beim Spiel mit Lüge und Illusion Gefühle, die nicht an sie gerichtet waren. So ist Täuschung das Grundmotiv von Hofmannsthals "lyrischer Komödie", ja "fast Operette".

 

Das Berner Produktionsteam setzt den Gedanken kongenial um. Als erkenntnisleitendes Symbol für die Sein-Schein-Problematik verwendet es die Brille, ein Accessoire, welches alle Figuren mit Stolz tragen, wogegen Arabella und Mandryka, der wahre Bestimmte, darauf verzichten, die Welt durch Gläser zu sehen. Und als die Oper abgespielt ist, lassen Regisseur Marco Storman und Bühnenbildner Marton Agh die ganze Dekoration mit einem Ruck niederfallen und zeigen nur noch die nackte Bühne. La commedia è finita. Die Illusion ist vorbei.

 

Während drei Stunden aber bewegen sich die Personen in einem Labyrinth von Pflanzen, das je nach Perspektive an den Paradiesgarten erinnert, an den wegen Spielschulden verlorengegangenen herrschaftlichen Park oder an die rousseausche Naturidylle als Gegensatz zur niederdrückenden kommerziellen Zivilisation im Wien der Gründerjahre. Und indem die Inszenierung den Fiakerball in einem Borkenhäuschen spielen lässt und nicht in einem Vergnügungslokal, unterstreicht sie die Dialektik von Wunsch und Wirklichkeit und bestätigt den tiefsinnigen Satz des Genfer Linguisten Ferdinand de Saussure: "Le point de vue crée l'objet."

 

Zur Geschlossenheit des Regiekonzepts trägt Christian Aufderstroths Lichtgestaltung Wesentliches bei. Mit zarten Wechseln lässt er die Figuren aufdämmern wie Erscheinungen, und durch das subtile Spiel von Licht und Schatten gleitet eine Szene unmerklich weiter zur nächsten. Wie die Musik fürs Ohr ruft der ununterbrochene Lichtfluss fürs Auge die singuläre Einheitlichkeit der Berner Interpretation hervor.

 

Ihr wird die Personenführung vollauf gerecht. Darstellerisch und sängerisch überaus homogen, stellt das 14-köpfige Ensemble gleichzeitig stets den Typ und die Situation vors Auge. Sami Luttinen als Graf Waldner (von seinem Namen leitet sich vermutlich das hintersinnige, mehrperspektivische Dekor ab): 1A punkto Haltung, Stimmschönheit und Diktion. Claude Eichenberger als Gräfin: Respektgebietend durch die Sicherheit des Auftretens und der Vokaleinsätze. Kiandra Howarth als Arabella: Pures Glück durch die Strahlkraft ihres Soprans und die Wahrheit ihres Spiels. Patricia Westley als Zdenka: In der Männerrolle beeindruckend und in der Frauenrolle berührend durch die Aufrichtigkeit ihrer Darstellung. Robin Adams als Mandryka: Eine Wucht als Sänger und Mann, der die Achterbahn der Gefühle ergreifend durchläuft. Michal Proszynski als Matteo: Glaubhaft und anrührend in der undankbaren Rolle des leidenden Bewerbers. Ian Matthew Castro, Iyad Dwaier und Christian Valle als die drei gräflichen Anbeter: Jeder fein und individuell charakterisiert. Hye-young Moon als Fiakermilli: Ein Brillantfeuerwerk der schrägen Koloraturen. Kate McNamara als Kartenaufschlägerin: In der Berner Produktion spielt sie eine Spezialistin für Lebensverläufe und begleitet die Figuren durchs Handlungslabyrinth. Am Ende wendet sie die Polaroidkamera ins Publikum und drückt ab. Das Licht erlischt, und die Frage bleibt: Welche Rolle spielst du in der Komödie deines Lebens?

 

Die Musiker interpretieren die intrikaten solistischen Läufe wohlgelaunt und wirkungssicher. Die zarten Stellen, zu denen Altmeister Richard Strauss an den Höhepunkten führt, taucht das Berner Symphonieorchester in ergreifende, ja geradezu jenseitige Innigkeit. Solche Momente wird man erwähnen, wenn man einst mit Stolz davon sprechen wird, dass Nicholas Carter mal zu Beginn seiner internationalen Karriere die Bundesstadt als Chefdirigent beeindruckte.

Fiakerball im Borkenhäuschen. 

Kiandra Howarth in der Titelrolle. 

 
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