Frühlings Erwachen, frei nach Frank Wedekind.
Ein Abend mit Berner Jugendlichen.
Bühnen Bern.
Joanna Praml, Dorle Trachernach, Inga Timm, Hajo Wiesemann. Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 13. Oktober 2024.
> Es ist die Spezialität der Regisseurin Joanna Praml und ihrer Textmitarbeiterin Dorle Trachternach, junge Laien zum Spielen neuer Fassungen von alten Stücken zu bringen. Einmal kommt es hervorragend heraus, das andere Mal eher nicht. Zu den durchgezogenen Erfolgen gehört der Abend mit den Berner Jugendlichen. Sie wecken im Kritiker zwar ein tiefempfundenes väterliches Wohlwollen, doch sobald das Kollektiv die Hauptrolle abgibt und packende Gestaltung individueller Verläufe und exakte Figurenzeichnung gefragt wären, fehlen den jungen Leuten Erfahrung, Talent und Handwerk. Trotzdem stehen die Erwachsenen – grossmehrheitlich durch familiäre Beziehungen mit den Auftretenden verbunden – an der Premiere zum Klatschen auf. Ein alter Theaterhase rühmt: "Etwas vom Besten, was ich in den Vidmarhallen gesehen habe. Schade, sass ich in der achten Reihe. Da habe ich nur fünfzig Prozent verstanden." "Ich sass in der fünften Reihe", entgegnet der Kritiker, "und verstand nur zwanzig Prozent." "Sie haben recht", konzediert der alte Theaterhase. "Meine Schätzung war wahrscheinlich zu hoch." <
Anfangs war das Stück von der Zensur verboten. Erst 15 Jahre nach seiner Entstehung brachte es Max Reinhard in Berlin 1906 zur Uraufführung. Nur ein Teil der Szenen war freigegeben, und innerhalb des Bestehenden war vieles abgemildert. "Dass man Hänschen Rilows einsames Gespräch weglassen musste, war schade. Weggefallen war leider auch das Gespräch zweier Jungen im Rebengelände. Warum?", fragte der Uraufführungskritiker Alfred Kerr. Nun, es ging um Zersetzendes: Knabenhafte Onanie im Klosett. Geschlechtsverkehr zweier Jugendlicher im Weinberg. Selbstmord eines verzweifelten Gymnasiasten aus Angst, die Matur nicht zu bestehen. Schwängerung einer 14-Jährigen durch einen 17-Jährigen beim sexuellen Probierspiel. Das Mädchen, das in seiner Unschuld nicht weiss, was mit ihm geschieht, erliegt der Abtreibung, die die Mutter veranlasst hat, um die "Schande" zu verbergen.
Ausgelöst wird die "Kindertragödie" (so nannte Frank Wedekind sein "Frühlings Erwachen") durch die Verklemmtheit der überforderten Eltern und der rechthaberisch-idiotischen Lehrer im wilhelminischen Zeitalter. Die Darstellung der Autoritäten kippt bei der Lehrerzimmerszene ins Groteske:
KNÜPPELDICK: Ich kann mich nicht länger der Überzeugung verschliessen, dass es endlich an der Zeit wäre, irgendwo ein Fenster zu öffnen.
FLIEGENTOD: Wenn meine Herren Kollegen ein Fenster öffnen lassen wollen, so habe ich meinerseits nichts dagegen einzuwenden. Nur möchte ich bitten, das Fenster nicht gerade hinter meinem Rücken öffnen lassen zu wollen!
SONNENSTICH (zum Pedellen): Lassen Sie das andere Fenster geschlossen.
Seit 1968 stehen nun aber in Europa alle Fenster offen. Mit der Abkastelung ist es vorbei. Die frische Luft kann ungehindert durch alle Räume strömen. Nemo gewinnt den ESC. Damit hat Wedekinds Stück seine Relevanz verloren. Der Programmzettel zitiert eine Kritik aus dem Jahr 1998: "Die Geschichte hat inzwischen gearbeitet, nichts ist weniger aktuell als Frühlings Erwachen."
Dass uns mehrfache Epochenbrüche vom wilhelminischen Zeitalter trennen, zeigen Dorle Trachternachs Textfassung und Joanna Pramls Regie dadurch, dass sie die Brüche auf allen Ebenen mitinszenieren. Frisuren und Kostüme sind heutig (Inga Timm), nicht gestrig. Das zehnköpfige jugendliche Personal – von Marie (15) bis Blue (19) – ist von hier, nicht von dort. Es zitiert die Sätze aus Wedekinds Stück, nimmt dafür oft das Reclam-Heft zur Hand, spielt einzelne Handlungen nach, unterstreicht aber durch seine Auftrittsweise die Divergenz zwischen der damaligen und der heutigen Verfassung der Jugend. Gemeinsam bleibt den Menschen dieses Alters indes die Suche nach Orientierung, die Angst, das Leben zu verpassen, das Erlebnis auseinanderstrebender Spannungen und das Gefühl von Fremdbestimmung.
Indem die Aufführung die Dokumentierung der Erarbeitung einer Maturarbeit zu "Frühlings Erwachen" durch Videoaufzeichnungen und selbstreflexive Passagen wiedergibt, erhebt sie die Vielzahl der Brüche zum Formprinzip, das die labyrinthische Lebensphase der realen Berner Jugendlichen mit der labyrinthischen Lebensphase der literarischen Figuren in Beziehung setzt. (Die geneigte Leserschaft erkennt, dass sich in dieser labyrinthischen Formulierungsweise die labyrinthische Inszenierungsweise spiegelt.) Da liegt die Stärke der Inszenierung: Sie lässt Inhalt und Form ineinanderlaufen. Am beeindruckendsten zeigt sich das am Zusammenspiel von Musik (Hajo Wiesemann) und Handlung.
Anderseits zerstört das Formprinzip der Brüche den Verlauf der Tragödie. Damit fehlen dem Abend mit Berner Jugendlichen die Elemente Beschleunigung, Spannung, Erschütterung, Umschwung. Das Spiel mit den Allusionen kann nur verstehen, wer das Original kennt und die vielfach gebrochenen Verbindungen zwischen den Ausführenden und Wedekinds Gestalten entziffern kann. Die Aufgabe ist um so schwieriger, als die jungen Laien derart verwaschen artikulieren, dass die Verständlichkeit ihrer Sätze im besten Fall fünfzig, im schlechtesten Fall zwanzig Prozent beträgt. Da liegt die eigentliche Schwäche der Aufführung, der man im übrigen mit tiefempfundenem väterlichem Wohlwollen folgt.
Auf allen Ebenen werden ...
... die Brüche mitinszeniert.