Die siamesischen Zwillinge im Krabbelalter. © Fabrice Robin.

 
 

 

Les sœurs Hilton. Valérie Lesort.

Schauspiel.

Christian Hecq/ Valérie Lesort. Compagnie Point Fixe im Théâtre des Bouffes du Nord, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. Oktober 2024.

 

> Liebevoll hat Christian Hecq, Sociétaire der Comédie-Française und mehrfacher Molière-Preisträger, zusammen mit seiner Frau, der vielseitig begabten Masken- und Figurenbildnerin Valérie Lesort, ein Zirkus- und Varieteespektakel ins Leben gerufen, das von der ersten Minute an packt. Es ergänzt die artistische Kunstfertigkeit mit Menschlichkeit und gibt den "Sœurs Hilton" Tiefgang. <

 

Wie immer, wenn etwas gelingt, bilden Anfang und Schluss markante Akzente. Bei den "Sœurs Hilton" treten zuerst zwei stumme, rotgekleidete Zirkusdiener vor den Vorhang und installieren ein Schnurmikrofon auf dem Boden. Sein Ständer ist so kurz, dass es den Männern nur bis zu den Fussknöcheln reicht. Gebückt beklopfen sie es und vergewissern sich, dass es funktioniert. Dann treten sie ab. Jetzt schlüpft ein kleiner Hund unter dem Vorhang hervor, stellt sich vor das Mikrofon und beginnt, mit schnellen Bewegungen das Maul auf und zuzuklappen. Die Lautsprecher übertragen seine Ansprache: "Meine Damen und Herren, ich begrüsse Sie zu unserer Vorstellung. Sie finden mich sympathisch. Aber ich kann auch beissen, wenn ich jemanden erblicke, der aufs Handy schaut."

 

Über dem Zirkusportal beginnt ein Musiker zu spielen. Eine Jahreszahl wird eingeblendet: 1903. Mit wedelndem Schwanz begibt sich der Hund hinter den Vorhang, und eine groteske Figur tritt auf: Christian Hecq, kostümiert als alte Frau, ja beinahe schon Märchenhexe. In Brighton, erklärt sie mit unheimlichem Zungen- und Gebärdenspiel, betreibe sie eine Schank. Nebenberuflich arbeite sie als Hebamme und helfe den armen Mädchen, ihre unehelichen Kinder zur Welt zu bringen. Schon setzt ein Stöhnen ein. Der Vorhang teilt sich. Die Zuschauer wohnen der Geburt der "Sœurs Hilton" bei.

 

Die absurde Wehmutter setzt sich zur geschwächten Wöchnerin: "O du armes Wesen! Wie willst du deine Zwillinge durchbringen? Am besten gibst du sie zur Adoption frei! Schau, ich hab hier grad ein Formular. Du brauchst es nur zu unterschreiben." Mit resoluter Gebärde drückt sie der jungen Frau einen Stift in die Hand und führt ihn so, dass die beiden Striche ein X bilden.

 

Die Neugeborenen sind an den Hüften ineinander verwachsen. Als Varietee-Attraktion werden sie der Alten ein Vermögen bringen. Die Darstellerinnen Valérie Lesort und Céline Milliat-Baumgartner lassen das Leben der Sœurs Hilton in stupendem Zusammenspiel vorüberziehen. Es zeigt den Traum der Beziehung zu einem Mann, die Schwängerung von einer der Schwestern, während sich die andere unbeteiligt stellt und in einem Magazin blättert; später folgen die Prostitution der vier nackten fünfzigjährigen Brüste in einer Peep-Show, das armselige Alter der vergessenen Stars und ihr rührend unheimliches Ende.

 

Sie liegen im Bett. Der Fernseher läuft. Da gewahrt die eine, dass sich die andere davongemacht hat. Mit ihrem Tod ist das Ende der siamesischen Zwillinge erreicht. Erschrocken nimmt die noch Lebende den Arm der Dahingegangen zu sich, umklammert ihn angstvoll, resigniert, liebend. Das Licht erlischt. Mit einem unvergesslichen Bühnentod hat sich die Truppe verabschiedet.

 

Valérie Lesort, Verfasserin des Stücks und Darstellerin der einen Schwester, erklärt die Faszination der "Sœurs Hilton":

 

Indem ich mich vom Leben der siamesischen Zwillinge Daisy und Violet Hilton inspirieren liess, wollte ich die Truppe würdigen: die der Monster, die in ihr jene Zuflucht und Familie fanden, die sie nie gehabt hatten, aber auch unsere eigene. Mit der Welt des Zirkus und des Varietees ehre ich die verschiedenen Talente und Fähigkeiten der Künstler und Techniker, die uns [Christian Hecq und mich] seit vielen Jahren umgeben.

 

Von diesem Herbst an tourt die Künstlerfamilie mit ihrer zarten menschlichen Botschaft unter anderem durch Lyon, Paris, Compiègne, Le Havre, Dunkerque, Namur, Nice, Martigues, Saint-Michel-sur-Orge, Poitiers, Chambéry, Évreux, Vesoul ... Dabei werden die Beteiligten ihre Figuren weiter ausloten; ihnen in die geheimsten Kammern der Seele nachsteigen; ihnen auf die Schliche kommen und erleben, dass eine Rolle im Lauf der Aufführungen wächst: "An der Premiere ist die Interpretation ja noch nicht fertig", erklärte Monique Mani, die Grande dame der Genfer Schauspiels. "Je sicherer man sie beherrscht, desto spielerischer, kühner, souveräner kann man danach ihre Facetten zur Darstellung bringen." Bei diesem Spiel werden die Beteiligten immer wieder überrascht, was in Stück, Aufführung und Rolle steckt. Aus diesem Grund unterstrich auch Jane Savigny, die Grande dame der Lausanner Schauspiels, wie wichtig es sei, dass man eine Inszenierung oft spielen könne.

 

Aufs Mal spüren die Darsteller, wie der Partner die Flügel ausbreitet: "Da liegt das höchste Glück", sagte eine weitere Grösse der Westschweizer Theaterszene, Séverine Bujard. "Es ist schwer zu erklären, aber das Wesentliche passiert nicht in den Sätzen, die wir aussprechen; auch nicht in den Rollen, die wir spielen, sondern in dem, was sich zwischen den Beteiligten einstellt." Das realisiert sich nun im Spiel der Künstlerfamilie Compagnie Point Fixe von Valérie Lesort und Christian Hecq, und die staunenden Zuschauer erleben es dankbar mit.

Spektakel. 

Triumph. 

Niedergang.

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