Der Luftballon als Symbol für aufgeblähte Literatur. © Joel Schweizer.

 

 

Orlando. Virginia Woolf.

Schauspiel.

Olivier Keller, Dominik Steinmann, Tatjana Kautsch, Michael Nobs. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 21. September 2024.

 

> Die neue Schauspielleitung von Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS!) eröffnet die Saison mit einer Aufführung zur Gender- und Identitätsproblematik. Zu diesem Zweck hat sie den Roman "Orlando" von Virginia Woolf für die Bühne umgeschrieben. Das Buch hat 300 Seiten, die Aufführung dauert 2 Stunden 30 Minuten mit Pause. Ideale Bedingungen für Lesefaule. Ihr Aufnahmevermögen wird dadurch unterstützt, dass die Stoffbahnen, die im Lauf der Erzählung vom Schnürboden niedergleiten, das Regenbogenmuster bilden. Bis zur Pause ist Orlando ein Mann, danach eine Frau. Demzufolge wird er/sie gleichzeitig von weiblichen und männlichen Darsteller*innen verkörpert. Zur Abbildung des Identitätsproblems wird die Erzählinstanz aufs fünfköpfige Ensemble verteilt. So bietet TOBS! den Gewerbeschul- und Gymnasialklassen am Jurasüdfuss Stoff für die Fächer Deutsch, Englisch, Geschichte, Ethik und Lebenskunde. Mögen die Mittel- und Oberstufenlehrkräfte die ausgestreckte Hand ergreifen! Altersempfehlung des Theaters: 12+. <

 

"Orlando" erschien 1928. Im selben Jahr beantwortete Virginia Woolf einen wohlwollenden Brief des Kritikers und Essayisten Max Beerbohm:

 

Ich schaue zu Ihnen auf als einem, vielleicht dem einzigen, der weit, weit über uns schwebend lebt, in einer heiteren und wolkenlosen Luft, unvergänglich, unnahbar. Und dann plötzlich schicken Sie einen Strahl von Ihrem Himmel herab, und er fällt - siehe da! - auf mich! Wenn Sie wüssten, wie ich Ihre Essays aufgesogen habe - wie sie mich mit Staunen erfüllen - wie ich mir nicht vorstellen kann, wie es wäre, so zu schreiben, wie Sie es tun! - das ist die nüchterne Wahrheit - aber ich werde es nicht schaffen zu sagen, wie viel Freude mir Ihr Brief bereitet hat.

 

Doch kann ich mich gegen Ihre höchst freundliche Kritik verteidigen? Ich fürchte, ich habe kein gutes Argument; es ist einfach so, dass ich nicht anders schreiben kann, als ich es tue. Ich setze mich hin und schreibe irgend etwas über das Leben oder die Literatur - Sie werden es nicht glauben, aber es ist so - einfach um mich zu amüsieren. Ich verteidige meine Texte nicht; ich lese sie nicht; der Gedanke daran lässt mich erschaudern.

 

So schreibt sie denn, getragen von der Liebe zu ihrer Freundin und Schriftstellerkollegin Vita Sackville-West, "Orlando, die Geschichte eines Lebens". Der Zeitrahmen des Romans reicht vom Jahr 1586 bis zu Virginia Woolfs Gegenwart. Die Hauptfigur durchläuft, ohne wesentlich zu altern, die verschiedenen Epochen der englischen Geschichte mit ihren verschiedenen Sichtweisen und Sprachstilen. Die Ausdrucksvielfalt entspricht dabei dem ewig wandelbaren "Selbst", das sich in Interaktion mit Umgebung und Zeitgeist unaufhörlich verändert. Wer bin ich - und wenn ja: wie viele?

 

Mit dem Identitätsthema steht Virginia Woolf nicht allein. Die Dichter der Moderne sind von der Fluidität der seelischen Zustände fasziniert. Gleichzeitig mit der Londoner Autorin schreibt Marcel Proust in Paris "Die Suche nach der verlorenen Zeit" und Hugo von Hofmannsthal in Wien den "Schwierigen". Alle drei verfolgen in subtilen Analysen die Verflochtenheit von Individuum, hoher Gesellschaft und Zeitgeist.

 

Die Problematik des Ichs, das sich je nach Atmosphäre, Stimmung, Kontext und Lebenssituation umgestaltet, wurde vom 18. Jahrhundert an in Europa thematisiert. Georg Christoph Lichtenberg, ein Meister der Introspektion, bemerkte in seinen "Sudelbüchern":

 

Wir glauben öfters, dass wir zu verschiedenen Zeiten verschiedene Hände [= Handschriften] schreiben, während sie einem dritten immer einerlei scheinen.

 

Dass die Ausschläge von dritten kaum bemerkt werden, liegt in der Natur der Sache:

 

Wer mit Menschen umgeht, in Gesellschaft oder bei der Arbeit, "nimmt" die Menschen "bei etwas". Wir kennen unsern Nächsten nicht. Selten nur ist uns ein Blick in seiner Seele Grund vergönnt. Wir sind darauf angewiesen, uns ein Bild von ihm zu machen und ihn danach zu behandeln. Wir bilden aber dieses Bild nach dem, was uns von ihm erscheint. Bei seinen Mienen, seiner Haltung, seinen Worten, Taten und Gebärden müssen wir ihn nehmen, wenn ein Umgang möglich sein soll. Insofern ist dies Verfahren ähnlich dem, das die prosaische Sprache mit ihren Begriffen übt. Auch die Begriffe schöpfen das Wesen des begriffenen Dings nicht aus. Sie halten sich gleichfalls an ein Merkmal, das zur Unterscheidung dient, und genügen damit völlig dem alltäglichen Bedarf. Praktisch ist das also wohl. Doch ebenso erweist es sich als Quelle aller Missverständnisse, allen Irrtums und Betrugs.

 

Was Emil Staiger an Hofmannsthals Komödie "Der Schwierige" festmachte, handelt Virginia Woolf an "Orlando" ab. Auch er ist ein Schwieriger. – Staiger:

 

Inmitten eines aufgeregten Treibens scheint er reglos, ein Entrückter, zu verharren. Seine Schwierigkeit ist die, dass er sich bei gar nichts nehmen lässt, dass jeder sich verrechnet, der nach dem bewährten praktischen Verfahren mit ihm umgehn will.

 

Wie Hofmannsthal sein Drama und Proust seinen Roman, gestaltet auch Virginia Woolf ihre "Biographie" mit abgründigem Humor. Sie lässt Parodistisches, Burleskes, Ironisches ineinandergleiten, "einfach um mich zu amüsieren". Doch am Ende der Handlung schält sich heraus, dass Orlandos androgynes Wesen der poetischen Position entspricht, weit, weit über uns schwebend, in einer heiteren, wolkenlosen Luft.

 

Das Schauspiel von TOBS! nun zieht mit seiner Kurzfassung "Die Geschichte eines Lebens" hinunter an den Jurasüdfuss. Die Aufführung willfährt dem lokalen Charakter: "Nicht übertreiben! Seriös bleiben!" Wenn Virginia Woolf die Handlung vom elisabethanischen Hof der Renaissance über das Konstantinopel der Türkenzeit bis in das London der Gegenwart führt, so ebnet die Aufführung jede psychologische, geographische und geschichtliche Diversität ein und vermeidet es, durch Wechsel von Kostüm (Tatjana Kautsch), Spiel (Olivier Keller), Dekor (Dominik Steinmann) und Beleuchtung (Michael Nobs) starke Ausschläge aufkommen zu lassen. Fläche statt Tiefe. Wir sind in Biel/Solothurn. Also im Mittelland.

 

Das Ensemble spricht seinen Text ordentlich. Es vollzieht loyal jene Stellungswechsel im Raum, die das deutsche Schauspiel seit zwanzig Jahren verlangt. Der herausragende Günter Baumann aber zeigt, wie weit man käme, wenn das Spiel stärker auf Feinschliff, Charakterisierung und Zuspitzung angelegt wäre. Dort, wo Baumann steht, muss der Rest des Schauspiels von TOBS! noch hinkommen. Dann wird man nicht mehr von Ebene sprechen, sondern von Gipfel.

Die Regenbogenfarben als Statement. 

Der Mangel an Tiefe als Problem. 

Altmeister Günter Baumann als einsame Spitze. 

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