Süperbe Feinzeichnung. © Joel Schweizer.

 

 

Le Nozze di Figaro. Wolfgang Amadeus Mozart.

Dramma giocoso.

Sébastien Rouland, Deborah Epstein, Florian Barth. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 16. September 2024.

 

> Regisseurin Deborah Epstein kennt Biel/Solothurn seit vielen Jahren. Das kommt dem Werk zugut. Sie bringt eine lange Erfahrung aus dem Schauspiel mit. Das hilft den Sängern, die Figuren zu treffen. Mit diesen Voraussetzungen gelingt Deborah Epstein und ihrem langjährigen Bühnenbildner Florian Barth eine Produktion, die passgenau den Häusern am Jurasüd­fuss entspricht: Nur hier möglich. Nur hier sinnvoll. Der klug eingesetzte Minimalismus des Teatro povero verwandelt die Schwächen in Stärken und schenkt Biel/Solothurn ein ent­schlacktes Dramma giocoso, das eine schöne, leichte, zeit­gemässe Begegnung mit Mozart/da Ponte pur ermöglicht. <

 

Die kleinen Rollen sind alle süperb. Sie verwirklichen ein­wand­­­frei den Charakter von Staffage. Das Wort bezeichnet in der bildenden Kunst Menschen- und Tierfiguren, die zur Belebung von Landschafts- und Architekturbildern dienen; auch verdeutlichen sie die Raumtiefe und die Grössen­verhältnisse. Im Barock wurde die Staffage häufig von Spezialisten in die Bilder hineingemalt.

 

Ein solcher Spezialist ist Konstantin Nazlamov. Auf den Bühnen von Biel/Solo­thurn hat er schon mehrfach kleine Figuren mit feinem Pinsel zur Darstellung gebracht. Im "Barbier von Sevilla" (die Rosina aus jener Oper wird bei Mozart zur verheirateten Gräfin Almaviva, und der Barbiere wird zu Figaro) spielte er 2017 ein anonymes Banden­mit­glied, das angeschossen auf der Strasse lag und ein-, zweimal mit dem Arm still in die Luft griff. Jetzt spielt er zuerst Basilio, später Curzio (eine weitere Minirolle), und in Florian Barths trefflichen Kostümen – die zugleich karikaturesk und aufdeckend wirken – werden die beiden Typen durch Nazlamov zu präzisen Elementen, die die Handlung an entscheidender Stelle mittragen und vorantreiben.

 

Auch Valerian Ruminski gehört zu den Spezialisten, die man zur Charge schlägt. In "Figaro" versieht er als Doktor Bartolo das Komödienfach "eingebildeter Gelehrter" und als besoffener Gärtner das Fach "komischer Alter". Namentlich den Bartolo gibt Ruminski mit souveränem Schwung, und am Nachmittag der Deuxieme liefert er gesanglich die vollkommenste Nummer ab.

 

Schon mehr als Charge – nämlich Nebenrolle – ist die Marcellina, Fachbezeichnung: "komische Alte". Verliebt in Figaro, versucht sie, seine Hochzeit mit der jungen, knusprigen Susanna zu hintertreiben. Dabei spielt, wie Wolfgang Amadeus Mozart und sein Librettist Lorenzo da Ponte zeigen, auch Altersneid mit. Gemma Ni Bhriain betont indes nicht die verteufelt komische, sondern die resignative Seite der Figur. Damit bekommt Marcellina in Biel/Solothurn eine sanft anrührende Dimension, und das Kostüm unterstreicht ihre leise Vornehmheit.

 

Während der Ouvertüre bringt Deborah Epstein die Mitwirkenden nacheinander auf die Bühne. Sie erscheinen dabei gleich in dreifacher Funktion: als unauffällig moderne, heutige Menschen, als Künstler und als Opernfiguren. Diese Polyvalenz durchzieht daraufhin die ganze Inszenierung: Sie realisiert sich als feinbelebtes, mehrschichtiges Gewebe, das mit Künstlichkeit, Theatralität und Menschlichkeit spielt und auf diese Weise den Kern von Mozarts Kunst vor Augen bringt: Ehrlich­keit. Was immer der grosse Mann schrieb – es war nie falsch im ethischen oder künstlerischen Sinn. Und in Deborah Epsteins Konzept erscheinen nun auch die Hauptrollen unter dem Licht der Ehrlichkeit.

 

Bei Benjamin Molonfalean und Marlene Chevalley-Knoepfler sind Figaro und Susanna nicht gezeichnet von der 250-jährigen Aufführungsgeschichte, sondern wahr, locker und natürlich wie die jungen, unprätentiösen Mitarbeitenden aus der Crêperie nebenan. Sie bewegen sich in Umständen, die sie nicht geschaffen haben, und verfolgen ihren Weg mit Anstand, Stärke und Konsequenz.

 

Im Unterschied zu Susanna und Figaro, die ihre Beziehung mit reifer Verantwortlichkeit realisieren, treibt unbefrie­digtes egoistisches Verlangen die restlichen Hauptfiguren an. Bei Cherubino (Julia Deit-Ferrand), Gräfin (Rebekka Maeder) und Graf (Simon Schnorr) zeigt sich die Liebe als trieb­definierte Illusion. Die Inszenierung aber zeichnet die drei mit Nachsicht und sanfter Melancholie als traurige Gestalten im doppelten Wortsinn.

 

Das Sinfonieorchester Biel Solothurn steht unter Leitung von Sébastien Rouland. Es ist dem Maestro offensichtlich wichtig, dass Mozart nicht zelebriert wird. So spielt das Orchester jetzt zwar frischweg, lässt aber alle Forderungen nach Gestaltung, Schönheit und Belebung offen. Liegt es an der Deuxieme dieses Sonntagnachmittags? Spielte da die zweite Besetzung? Oder war, wie häufig in den darstellenden Künsten, die Premierennervosität abgelöst worden von postnataler Depression? Dann wäre auch die enttäu­schende Leistung von Rebekka Maeder erklärt. Und dann können sich die Besucher der 16 Folgevorstellungen noch auf ein schönes, leichtes, zeitgemässes Dramma giocoso freuen, passgenau eingerichtet für die Häuser am Jurasüdfuss und ihre Abstecher­orte Friedrichs­hafen, Düdingen, Burgdorf, Langenthal und Baden.

 

Liebe als ... 

... triebdefinierte ... 

... Illusion.

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