Zum Spielen unter sich. © Yoshiko Kusano.

 

 

Nimm die Alpen weg. Ralph Tharayil.

Schauspiel.

Marin Blülle, Sebastian Schrader. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 26. September 2024.

 

> Die Aufführung bewegt sich auf dem Grat zwischen Hermetik und Dadaismus. Wenn Hermetik: dann den Eingeweihten verständlich. Wenn Dadaismus: dann niemandem verständlich. Bei der Hermetik gibt es ein Dahinter, das den Gewöhnlichen verborgen ist. Beim Dadaismus gibt es kein Dahinter. Wer es trotzdem sucht, ist der Dumme. In beiden Fällen aber gilt: Nur so ins Theater latschen und meinen, es werde einem schon den Ärmel hineinziehen, geht nicht. Avantgarde à la bernoise definiert sich durch prononcierte Anspruchshaltung. "In der Anwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Genusses." (Brecht) Im konkreten Fall lautet das Kriterium: Wer sich blöd vorkommt und langweilt, darf auf dem schmalen Grat zwischen Hermetik und Dadaismus erfahren, was Höhenschwindel ist. Und für ihn formuliert der Titel des Stücks das Gebet: "Nimm die Alpen weg!" <

 

Sind die Alpen weg (ohne Führer verlangt deren Überwindung eine ganze Nacht), ist der Blick frei aufs Mittelmeer. Man erkennt dann, dass das Stück "nach dem Roman von Ralph Tharayil" das heute beliebte Thema des Heranwachsens, also des "Coming of Age", behandelt. Eine nicht näher bezeichnete Zahl von Geschwistern (auf der Bühne drei) schildert ihr enges Zimmer mit Kajütenbett. Die Aussagen beginnen mit "wir". Sie sind im Präsens gehalten, kennen keine Konjunktionen und kommen demzufolge nicht über einfache Hauptsätze hinaus. Der Text ist eben aus der Kinderperspektive verfasst. Aus diesem Grund erscheinen auch keine Kausalitäten. Die muss der Zuschauer herstellen (wenn er mag).

 

Die Bühneneinrichtung von Sebastian Schrader und Marin Blülle, welcher auch die Inszenierung besorgte, nimmt die Kinderperspektive auf. Im kleinen Spielraum von Vidmar 2 säumen Wandbänke einen braunen Kasten wie in einer Turnhalle. Der Teil des Publikums, der darauf Platz nehmen muss, merkt bald, dass er in einer unbequemen Lage sitzt: die Füsse erreichen den Boden nicht. Damit kann er nachvollziehen, wie es Kindern geht, die noch nicht das Mass der Erwachsenen erreicht haben.

 

Vor Spielbeginn begegnet man den Darstellerinnen Lou Haltinner, Isabelle Menke und Sascha Bitterli auf Kinderstühlchen, die auf die Grösse von Dreijährigen abgestimmt sind. In diesem Alter empfinden sich Geschwister noch als ungetrenntes Wir. Ihnen gegenüber lebt das Doppelgestirn von Pa und Ma. Es unterscheidet sich von den Kleinen dadurch, dass es eine eigene Sprache spricht – die Sprache seines Herkunftslands. "Nimm die Alpen weg" führt mithin zu einer Migrantenfamilie.

 

Die Eltern sind beide berufstätig. Der Vater schiebt Nachtschicht in einer Fabrik. Tagsüber schläft er. Später wird er sein Einkommen in einem Imbissstand erzielen. Die Mutter versieht Tagdienst in einem Spital. Die Kinder frühstücken selbständig. Sie stellen die Mikrowelle auf Stufe 1 und wärmen damit ihre Milch. Im Vorschulalter bleiben sie zum Spielen unter sich. Gern suchen sie eine Telefonkabine auf und tun, als ob sie mit sich selbst in Kontakt träten. Die symbolische Dimension, die sich an dieser Stelle unangestrengt ergibt, spricht für die Qualität der Textvorlage. Die Kinder antizipieren beim Spielen das Ziel des Erwachsenwerdens. Es liegt darin, sein Selbst zu erreichen.

 

Als die Geschwister zur Schule kommen, freunden sie sich mit einem Jungen an. Er trägt für ihre Ohren einen weiblichen Vornamen und entscheidet sich dafür, Ypsilon gerufen zu werden. Die Aufführung bringt dafür die Tänzerin Elina Kim ins Spiel. Mit der Allusion ans Ypsilon-Chromosom blitzt in der Vorlage wiederum Hintersinn auf. Gegen Ende der Aufführung zieht die vierköpfige Schar in die Ferne wie die Bremer Stadtmusikanten. Sie vergräbt ihre Mobiltelefone und durchtrennt damit das Band zum Elternhaus.

 

Eigentlich genügte es, Ralph Tharayil seinen Roman vorlesen zu lassen. Die Sache wäre rund und verständlich. Aber die deutsche Bühne – zu der sich auch das Berner Schauspiel zählt – will mehr. Sie theatralisiert heute mit Vorliebe epische Vorlagen und überträgt die Erzählinstanz einem genderinversen Kollektiv. Das war vor dreissig Jahren avantgardistisch. Heute nur noch heutig. Wir befinden uns am Ende der Entwicklung. Das Vokabular ist abgespielt.

 

Wenn eine gewisse Epoche hindurch in einer Sprache viel geschrieben und in derselben von vorzüglichen Talenten der lebendig vorhandene Kreis menschlicher Gefühle und Schicksale durchgearbeitet worden, so ist der Zeitgehalt erschöpft und die Sprache zugleich, so dass nun jedes mässige Talent sich der vorliegenden Ausdrücke als gegebener Phrasen mit Bequemlichkeit bedienen kann.

 

Diese Stagnation diagnostizerte Johann Wolfgang von Goethe, vor zweihundert Jahren Intendant des Weimarer Hoftheaters. Heute wiederholt sich die Geschichte. Mit der Dramatisierung von "Nimm die Alpen weg" bringen die Bühnen Bern zwar eine Uraufführung, aber Neues entsteht durch sie nicht. More of the same.

Das modische Thema ... 

... des Heranwachsens. 

The Coming of Age.

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