Ein alter Bunker in Calais. © Alejandro Guerrero.

 
 

 

Passeport. Alexis Michalik.

Schauspiel.

Alexis Michalik. Théâtre de la Renaissance, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. Oktober 2024.

 

> Gebrauchstheater. Mit diesem Wort bezeichnete Christian Schneeberger, Dokumentationsleiter der einstigen Schweizerischen Theatersammlung (heute Schweizer Archiv der Darstellenden Künste SAPA) Aufführungen zu einem Gegenwartsthema, das in der Gesellschaft heftige Reaktionen auslöst. In den 1980er Jahren war das Aids. Heute die Migrationsfrage. Sie steht im Zentrum von Alexis Michaliks "Passeport", einem Stück Gebrauchstheater, das schon mehr als hunderttausend Zuschauer ins Pariser Théâtre de la Renaissance geführt hat. <

 

Gebrauchstheater verfährt nach bewährten Rezepten. Sein Personal führt die Positionen einer aktuellen Debatte auf die Bretter. Im konkreten Fall sind das Migranten, die im Aufnahmelager von Calais ein Zelt teilen. Auf der anderen Seite vertritt ein pensionierter französischer Oberst die Argumente der Migrationsgegner. Sein schwarzer Adoptivsohn ist Grenzpolizist. Als unterstes Mitglied der Behörde, welche die staatlichen Weisungen umzusetzen hat, vertritt er die direkt betroffenen, aber hilflos resignierten Einheimischen. Seine Freundin gehört zur zweiten, bereits in Frankreich sozialisierten afrikanischen Einwanderergeneration. In der Journalistenrolle verficht sie die populismuskritische Position. Dramaturgisch betrachtet, bringt sie das Stück aus der Darstellungs- auf die Argumentationsebene.

 

Die Identifikation der Zuschauer schaffen (a) die Darstellung bekannter Situationen und (b) zwei Liebesgeschichten nach dem Schema "boy meets girl". Der Grenzpolizist lernt die Journalistin kennen, der Migrant eine Bibliothekarin. Nun ist die Anteilnahme geweckt: Hoffentlich kommt es mit den Paaren gut! – Nach demselben Muster (Schaffen sie's?) wird (c) die Identifikation durch das Element weiterverstärkt, dass der bescheidene, sympathische Migrant allen Widerständen zum Trotz ein Projekt umsetzt: Eröffnung eines Weltküche-Restaurants in Paris. Es soll Eingewanderte im Gastrobereich ausbilden und eine Brücke zu den Eingesessenen schlagen.

 

Die Schritte (1) Darstellung und Auffächerung der Problemlage (Exposition), (2) Schaffung von Identifikation durch das sogenannte "erregende Moment" der Liebe (Steigerung) und (3) Höhepunkt mit Heirat und Restauranteröffnung (Klimax) führen (4) zum Umschlag (Peripetie): Der schwarze, vorbildlich assimilierte Migrant ist in Wirklichkeit der verlorengegangene Grenzpolizist. An diesem Punkt entpuppt sich "Passeport" als Verwechslungsgeschichte.

 

Seit der Antike sind unzählige Stücke nach diesem Muster entstanden. Vier Fünftel als Komödien wie "Das Spiel von Liebe und Zufall" von Marivaux oder "Die venezianischen Zwillinge" von Goldoni; ein Fünftel als Tragödien wie "Der vierundzwanzigste Februar" von Zacharias Werner oder "Das Missverständnis" von Albert Camus.

 

Die (5) "Auflösung" (Katastrophe) erfolgt durch die "Wiedererkennungsszene" (Anagnorisis): Die falschen Identitäten werden aufgedeckt, alles kommt an seinen richtigen Platz. Bei "Passeport" muss Stückeschreiber Alexis Michalik dafür den Handlungsverlauf unterbrechen und früher Vorgefallenes nachholen.

 

Dieser undeklarierte chronologische Rücksprung ist nicht nur unelegant, er ist auch verwirrend: Selbst für geübte Zuschauer sind die Fäden kaum auseinanderzuhalten. Philosophisch und moralisch hingegen lässt sich die Verwirrung nicht als Fehler, sondern als Aussage verstehen: Es ist Zufall, wer wo auf Erden steht. Ein Grenzschützer kann unter anderen Umständen geradeso gut Migrant sein. Für diese Botschaft stehen die Zuschauer im Théâtre de la Renaissance am Ende auf; bis heute mehr als hunderttausend.

Die Ankunft. 

Die ersten Nächte. 

Die Integration. 

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