Nicolas Bouvier und sein Darsteller Samuel Labarthe. © Emilie Brouchon.

 
 

 

L'usage du monde. Nicolas Bouvier.

Monolog.

Catherine Schaub. Théâtre de Poche Montparnasse, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. Oktober 2024.

 

> "Der Gebrauch der Welt" (L'usage du monde) erzählt vom ersten Teil einer Fahrt von Belgrad nach Kabul mit einem Fiat Topolino in den Jahren 1953/54. – Acht Verleger lehnten das Manuskript ab. 1963 publizierte es Nicolas Bouvier auf eigene Kosten. Einmal gedruckt, brauchte das Buch dreissig Jahre, um Leser zu finden. Danach schwoll sein Ruhm unablässig an. Es wurde zum Klassiker der modernen Reiseliteratur. 2018 kam es in Frankreich auf die Lektüreliste für die Kandidaten des höheren Lehramts (aggrégation de lettres). Heute füllt sein Vortrag zwischen dem 5. September und dem 17. November 2024 täglich ausser Montag das Théâtre de Poche Montparnasse Paris bis auf den letzten Platz. <

 

Wie Georg Christoph Lichtenberg schrieb, lernte Nicolas Bouvier durch seine lange Reise in den Fernen Osten "eine Sache neu anzusehen, nicht durch das Medium der Mode, oder mit Rücksicht auf unser Modesystem". Damit wurde seine Weltsicht erweitert, und von dieser Erweiterung erzählt "L'usage du monde". Voraussetzung ist allerdings, wie Nicolas Bouvier zeigt, dass wir in der Fremde zum Fremden kommen. Das wird immer schwieriger. Um 1775 bemerkte der hellsichtige Lichtenberg : "Wenn es einmal in der Welt keine Wilden und keine Barbaren mehr gibt, so ist es um uns geschehen."

 

Bis zur Erfindung der Dampfkraft genügte es, das Land zu verlassen, um Abenteuer zu finden:

 

Das Schiff fing an, solche Bewegungen zu machen, dass grosse Kisten von einer Seite zur anderen stürzten, mit einem solchen Gepolter, dass man glaubte, das Schiff müsse in Stücke springen. Endlich riss unser Vordersegel, und alle Matrosen bis auf zwei oder drei wurden krank.

 

Das erlebte Georg Christoph Lichtenberg auf einer Fahrt über den Ärmelkanal.

 

Von Göttingen reisete ich ab montags den 29. August 1774 um 11 Uhr vormittags und setzte den Fuss in Essex ans Land den 25. September um 3 Uhr nachmittags, nach einer Seefahrt von 24 Stunden. Den 27. September kam ich in London an und stieg in Oxford Street ab.

 

Heute können wir, wie Nicolás Gómez Dávila feststellt, das Reisen vergessen:

 

In diesem Jahrhundert der umherziehenden Menschenmengen, die jeden glanzvollen Ort entweihen, ist die einzige Huldigung, die ein respekt­voller Pilger einem verehrungswürdigen Heiligtum darbringen kann, die, es nicht zu besuchen.

 

Es genügt zu betrachten, wie sich die Reisenden benehmen:

 

Die jüngsten Generationen gehen zwischen den Trümmern der abend­ländi­schen Kultur umher wie japanische Touristen zwischen den Ruinen von Palmyra.

 

Die Ursache ist klar:

 

Es ist unmöglich, in der Welt umherzureisen und gleichzeitig intelligent zu sein. Die Intelligenz ist eine Angelegenheit von Sitzfleisch.

 

Und der Nicolas-Bouvier-Abend im vollbesetzten Théâtre de Poche Montparnasse zeigt:

 

Die Welt, die es wert wäre, Reisen zu unternehmen, existiert bereits nur noch in alten Reiseberichten.

 

Indem Nicolas Bouviers alter Reisebericht in Zustände zurückführt, die vor siebzig Jahren existierten, wird seine Reise zum Trip. Belgrad lag in einem Land namens Jugoslawien. Der Iran war ein Kaiserreich und hiess Persien. Die Türkei war laizistisch, und der Schleier war verboten.

 

Auf seiner Reise aber vernahm Nicolas Bouvier schon die Klage:

 

Der Islam hier, der wirkliche ... damit ist es vorbei ... nichts als Fanatismus, Hysterie, Leid. Die Gläubigen folgen nur noch ihren schwarzen Fahnen, schreien, plündern ein paar Läden oder verstümmeln sich selbst in ihren Ekstasen am Todestag der Imame ... Da bleibt nicht mehr viel Ethik übrig; was die Lehre betrifft, reden wir nicht davon! Ich habe hier einige echte Muslime gekannt, einige sehr bemerkenswerte Leute ... Aber die sind alle tot oder verschwunden. Nun ... der Fanatismus ist die letzte Revolte des armen Mannes, die einzige, die man ihm nicht zu verweigern wagt. Sie bringt ihn dazu, am Sonntag zu schreien, aber unter der Woche hält er sich still, und es gibt Leute, die sich damit arrangieren. Vieles wäre besser, wenn es weniger leere Bäuche gäbe.

 

In Paris wird jetzt "L'usage du monde", klug gerafft, vom Schauspieler Samuel Labarthe im Format "seul en scène" vorgetragen, und das Publikum begegnet nicht nur einer vergangenen Welt, sondern auch einem beinahe schon vergangenen Ideal von Sprechkunst. Die Basis bildet eine wohlklingende, makellose Diktion. Dazu kommt eine intelligente Gestaltung der Textmasse mit subtilen Verlangsamungen und Beschleunigungen. Und schliesslich ein Ohr für die richtige Satzmelodie. Wenn das Ganze ohne Ostentation daherkommt, so dass man nicht das Geringste von Catherine Schaubs Regie bemerkt, die auf "weniger, weniger, weniger!" drängte, dann verschwinden Theater und Schauspieler hinter der Botschaft, und man empfindet Nicolas Bouviers Weltbeschreibung wie eine späte, kostbare Blüte. "Zerpflücke eine Rose, und jedes Blatt ist schön." (Bertolt Brecht)

Der Fiat Topolino. 

Die Reiseskizzen. 

 
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