Erste Ebene: Der gesellschaftliche Rahmen. © Klara Beck.

 

 

Norma. Vincenzo Bellini.

Tragedia lirica.

Andrea Sanguineti, Marie-Eve Signeyrole, Fabien Teigné, Philippe Berhomé. Opéra national du Rhin, Strassburg.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 1. Juli 2024.

 

> Die Strassburger Rheinoper hat zum Saisonschluss eine aussergewöhnliche, ja schon wahrhaft paradoxe Aufführung von Vincenzo Bellinis "Norma" auf die Bretter gebracht. Die Paradoxie – ein für die Epoche wichtiges Wort – liegt darin, dass aus einem hellen, hochintelligenten System von Spiege­lungen (Reflexion der Reflexion der Reflexion) die vom roman­tischen Streben intendierte Wucht emporwächst. Geist und Artistik führen mithin zu Emotion und Erschütterung. Wahrhaft ein Paradox. <

 

Zwanzig Jahre vor Uraufführung der "Norma" veröffentlichte Heinrich von Kleist 1810 in den "Berliner Abendblättern" den Aufsatz "Über das Marionettentheater". "Die Bedeutung dieses kleinen Werkes kam erst der Kleist-Interpretation unseres Jahrhunderts zum Bewusstsein", schrieb Werner Kohlschmidt 1974 in seiner "Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart". Danach schaffte es das "kleine Werk" in den Stoffplan für das Fach Deutsch an den obersten Klassen der Gymnasien, und die Überlegungen von Bellinis genialem Epochen­verwandten wurden allgemeines Bildungsgut. (Dichter und Komponist starben beide im Alter von 34 Jahren.)

 

Kleist postulierte, bei "unendlichem Bewusstsein" trete die ästhetische Qualität der "Anmut" ans Licht:

 

So, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem Durchgang durch das Unend­liche, plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, dass sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat, d.h. in dem Gliedermann [der Marionette], oder in dem Gott. Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müssten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.

 

Für "Norma" jagen nun Regisseurin Marie-Eve Signeyrole und ihr kongeniales Team Bellinis Tragedia lirica "gleichsam durch ein Unendli­ches" und stellen die Aufführung in einen immensen Bogen. Er reicht vom "heiligen Wald der Druiden", beschworen vom wunderbar wohlklingenden, präzisen und stimmstarken Chor, über das widersprüchliche Schicksal der heidnischen Priesterin Norma zur Zeit des Imperium Romanum bis zur Lebenstragödie der grössten Norma-Sängerin aller Zeiten, der Primadonna assoluta Maria Callas.

 

Das Konzept macht aus der Aufführung ein bewegtes Spiegel­kabinett. Es zeigt exakt verstandene, geistig anregende Entsprechungen zwischen dem von Rom besetzten Gallien des ersten Jahrhunderts mit dem von Faschisten besetzten Rom des 20. Jahrhunderts. Und die Höllenfahrt der romantischen Opernfigur verbindet sich mit den ernüchternden Lebensmomenten der Diva. Sie scheitert in Rom am zweiten Akt der "Norma" und beendet daraufhin die Karriere.

 

Um die Reflexion der Reflexion der Reflexion in Gang zu setzen, baut Fabien Teigné eine Dreifach-Drehbühne. Sie ruft eine fliessende Veränderung der Räume hervor, die den Tonartenwechseln von Bellinis Partitur entspricht und den Nummern eine nie gesehene, packende Dimension verleiht. Ebenso stimmig gestalten sich die inhaltlichen Bezüge zwischen dem Schicksal der Norma und dem Schicksal der Callas. Die Sängerin spiegelt die Opernfigur, und die Aufführung spiegelt die Sängerin, indem die beiden überlebensgrossen, mythischen Frauen einerseits durch Statistinnen, anderseits durch Porzellanfiguren multipliziert und durch Live-Video auf den oberen Bühnenaus­schnitt projiziert werden.

 

Die Vielfalt der Bezüge und die bewegte Bühne erregen im Zuschauer einen trip-ähnlichen Schwindel. Aus ihm resultiert die Paradoxie, dass aus dem hellen, hochintelligenten System von Spiegelungen die vom romantischen Geist intendierte Wucht erwächst, mitgeschaffen von der glasklaren Interpretation des Orchestre symphonique de Mulhouse unter Leitung von Andrea Sanguineti.

 

Die drei Hauptfiguren Norma (Karine Deshayes mit Betonung der warmen, leidenden Dimension), Adalgisa (Benedetta Torre mit Akzent auf der jugendlichen Grazie) und Pollione (Norman Reinhardt mit Gewicht auf der männlichen Lakonie) stehen für gebrochene, zwiespältige Wesen. Bei ihnen ist die Liebe gekoppelt mit Heimlichtuerei und mehrfachem Verrat. Diese Gespaltenheit arbeitet das Beleuchtungskonzept von Philippe Berhomé durch Kontrast von blendend weissen Flächen mit tiefen Schlagschatten heraus. Damit gelingt der Strassburger Oper eine Produktion von unüberbietbarer Geschlossenheit.

Zweite Ebene: Kreuzung von Literatur und Leben. 

Dritte Ebene: Spiegelung von Bühne und Leben. 

Vierte Ebene: Vermengung von Gewalt und Leben. 

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