Theaterraum und Zuschauer sind einbezogen. © Tanja Dorendorf.

 

Liebesgesang. Georg Friedrich Haas.

Oper.

Tobias Kratzer. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 1. Juni 2024.

 

> Bitte sagen Sie es nicht weiter: Aber bei der Uraufführung des "Liebesgesangs" ist der Kritiker durchgefallen. Endlich, werden viele jubeln. Jetzt hat's ihn erwischt. Wie kann man nur so hochmütig sein, die Einführung auszulassen, zumal sie gratis ist. Wer unvorbereitet zum Examen geht, muss in Kauf nehmen, dass er versagt. Ein Theater ist schliesslich kein Vergnügungspark, wo jeder mit der Forderung herein­latschen kann: Amüsiert mich mal! Im Gegenteil, gerade bei avancierten zeitgemässen Kunstformen muss der Betrachter die Hauptarbeit leisten. Einfach zurücklehnen und erwarten, dass man abgeholt wird, geht heute nicht mehr. Einer, der sich Kritiker nennt, müsste das eigentlich wissen. Nun bin ich gespannt, wie er sich morgen herausreden wird. Denn begriffen hat er nichts, der grosskopfete Eingebildete. Immerhin war er so ehrlich, nicht auch noch zu klatschen. <

 

Bitte nehmen Sie Platz. Das ist Frau Riva, die Beisitzerin.

(Nimmt ein Dokument zur Hand.)

Sie sagen in Ihrem Verriss, man könne die Produktion nicht verstehen. Worauf stützen Sie das?

 

Mir wurde ein Platz in der zweiten Reihe des zweiten Rangs Mitte zugewiesen. Vor mir sass Peter Hagmann, der frühere Musikkritiker der NZZ. Er legte, wie alle Zuschauer in der ersten Reihe, den Kopf auf die Brüstung, weil er sonst nicht auf den Spielort sah. Er lag zu steil unten und war dem Blick entzogen. Auf dem rechten Seitenrang folgte einer der ganzen Vorstellung stehend. Ich selber sah von meinem Platz aus nicht mehr als ein Viertel der Handlung.

 

Warum sind Sie denn nicht auch aufgestanden?

 

Hinter mir war die Loge des Beleuchtungsmeisters. Ihm durfte ich die Sicht nicht verdecken. Ausserdem hatte ich das Gefühl, es lohne sich nicht. Die Darsteller bewegten sich kaum. Auch fand ich ihre körperlichen Interaktionen uninteressant.

 

Ein kühnes Urteil, wenn Sie kaum etwas gesehen haben!

 

Manchmal richtete ich mich ein wenig auf, um ein Bild der Situation zu gewinnen. Dann sah ich, wie sich Robin Adams bis auf die Unterhosen auszog und dachte: "Nein, nicht schon wieder! "

 

Was heisst das?

 

Nun, vor zehn Jahren hat Thomas Ostermeier, der Chef der Berliner Schaubühne, in der BBC erzählt, er wehre sich dagegen, in jeder Produktion nackte Körper sehen zu müssen. Nacktheit sei längst kein Modernitätsmerkmal mehr. Das finde ich auch. Und dann ist der Gestus auch nicht genderneutral. In der Regel bleiben die Frauenkörper bedeckt. In Bern darf Claude Eichenberger ihr Hemd anbehalten.

 

Aber vielleicht macht das Sinn. Haben Sie keine Erklärung?

 

Der Mann entkleidet sich, wie das Libretto das Wort "Schwanz" aufbringt. Zuerst nur als Wort, dann im mehrfach wiederholten Satz: "Mein Schwanz lässt mich hängen." Ich nehme an, die Regie wollte das illustrieren, ging aber nicht bis zum äussersten.

 

Aber das passt doch zum Titel "Liebesgesang"!

 

Diese Sicht der Dinge ist mir zu banal.

 

Aber Sie wissen doch, dass Regisseur Tobias Kratzer ein mehrfach ausgezeichneter Künstler ist! Seit fünf Jahren werden seine Inszenierungen in Bayreuth umjubelt. Und ab nächstem Jahr leitet er die Staatsoper Hamburg.

 

Vor zehn Jahren sah ich seine "Hugenotten" in Nürnberg. Damals war er 34. Die Inszenierung war so gescheit, dass sie das Gespräch am Frühstückstisch des Hotels mit einem Regisseur und Operndirektor zwei Tage lang alimentierte. Uns war klar: Der Mann kann etwas!

 

Doch in Bern haben Sie nichts von seiner Meisterschaft bemerkt?

 

Ich fand halt die Vorlage schwach. Das Libretto von Händl Klaus bestand, so nahm ich's wahr, aus zusammenhangslosen Kurzsätzen. Die meisten verstand ich nicht, ich meine: akustisch. Vollständig kamen bei mir nur an: "Ich habe das für mich gekauft", "Die Wand ist kalt" und "Das Haus ist in den Berg gebaut". Und das auch nur dank den Wiederholungs­schlaufen.

 

Aber die Partien waren doch mit zwei prominenten Sängern besetzt.

 

Nur kann von herkömmlichem Kunstgesang keine Rede sein. Die Komposition von Georg Friedrich Haas bewegt sich im Idiom der Sechziger­jahre. In unserer Gegend praktizierte es Urs Peter Schneider virtuos. Also déjà-vu, déjà-entendu.

 

Wenn Sie jetzt aufs Ganze blicken, was haben Sie begriffen?

 

Der Liebesgesang ist ein zentraler Bestandteil jeder Oper. Das Regieteam macht das kenntlich, indem es den ganzen Theaterraum ausleuchtet und in die Aufführung miteinbezieht. Im Zentrum liegt ein hilfloser, stöhnender Mensch. Es gibt in der Opernliteratur wohl hunderte von Kerkerszenen. Die berühmteste in "Fidelio". Der Gefangene träumt sich weg in die Freiheit. So lese ich die Vogeldarstellungen auf den vielen Bildschir­men, die im Zuschauerraum aufgestellt sind. Bei Beethoven kommt die Rettung durch die Frau. In Bern steht eine Zuschauerin auf, nimmt ihre Tasche und begibt sich in den Graben, zum Versehrten und Versenkten. Das verstehe ich als tätige Solidarität. Nun reagieren die beiden aufeinander, sie berühren, sie umarmen sich. Doch dann steigt die Frau über eine Leiter wieder ins Publikum. Sie lässt den Mann zurück. Mit einem Stöhnlaut, den ich als Sterben interpretiere, erstarrt er, und das Licht erlischt. Man kann also die ganze Aufführung als Traum eines zu Einzelhaft Verurteilten lesen. Damit hat die Produktion eine humanitäre Mission. Ich denke an Terre des Hommes.

 

Sie haben sich grosse Mühe gegeben, uns etwas vorzu­flunkern. Aber Ihre Darstellung entspricht in keiner Weise der Handlung, die Tobias Kratzer inszeniert und hervor­ragend im Programmheft beschrieben hat.

 

Ich habe es eben nicht gelesen.

 

Passen Sie auf! Diese Haltung kann man Ihnen als Arroganz auslegen. Wollen Sie etwa sagen, man könne heutiges Theater durch Selberdenken verstehen? Mein Lieber, Sie wissen doch, dass sich die Bühne nach 1950 weiterentwickelt hat. Sie machen sich's zu bequem. Wenn Sie so funktionieren wollen, sind Sie im Theater am falschen Ort. Dann müssen Sie ins Kino, oder gleich zu Netflix. Ich hoffe, der "Liebesgesang" wird Ihnen eine Lehre sein. – Möchte die Beisitzerin noch etwas sagen?

 

Nein, es ist alles klar.

 

Sie sehen, Sie haben versagt. Sie können, wenn Sie wollen, in einem Jahr wieder zur Prüfung antreten. Aber in Ihrem Fall sehe ich offen gestanden wenig Chancen, ein angesehe­ner Kritiker zu werden. Vielleicht für Bümpliz. Aber nicht für die Welt. Guten Tag. Sie können gehen.

 

Gefangen im Loch. 

Ohne Austausch. 

 
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